Im Rahmen seiner Dissertation untersucht Christian Andrés Parra Sánchez neue Dimensionen aktivistischer Ansätze, Positionen und Narrative aus dem sogenannten "globalen Süden"1 mittels künstlerischen Formaten. Ziel ist es, hyperkomplexe soziopolitische Systeme aus diesen Regionen- d.h. ultradynamische Prozesse und Interaktionen - sowohl historisch als auch prospektiv aus einer dezidiert enteurozentrischen Grundhaltung heraus zu reflektieren und künstlerisch sichtbarer und zugänglicher zu machen.
Zu diesem Zweck entwickelt er eine digitale Plattform namens PACHA MAMA2, die diverse Akteur*innen und ihre künstlerischen Strategien des Widerstands kartografisch sichtbar macht und miteinander vernetzt. Diese Plattform dient einerseits als eine Art Seismograf für Transformationsprozesse in lateralen, transnationalen und transkontinentalen Beziehungen, aber auch als Bündnis von Aktivist*innen und ihren künstlerischen Strategien.
Die kartografische Darstellung erfolgt in Form eines interaktiven Globus, der südorientiert konzipiert ist und den Fokus gezielt auf diese Weltregion lenkt.
Im Mittelpunkt der Forschung steht die Entwicklung eines politisierenden Mediums, das künstlerischen Aktivismus und aktivistische Kunst innerhalb der Süd-Süd-Beziehungen miteinander verknüpft. Diese Plattform zielt darauf ab, horizontale Netzwerke zu etablieren und stellt ein Gegenmodell zu kolonial geprägten Hierarchien von Wissen und Technologie dar. Die dabei entstehenden Verflechtungen sind nicht nur im geopolitischen Kontext zu begreifen, sondern vielmehr als transkulturelle Netzwerke, die sich durch die organische und grenzüberschreitende Verbindung diverser Zugänge, Praktiken und Perspektiven erweitern.
Es geht darum, die Potenziale dieses synergetischen Austauschs zu erkennen und effektiv zu nutzen. Diese Prozesse ermöglichen eine Bündelung kollektiven Wissens und gemeinsamer Ressourcen, die sich jenseits der hegemonialen Dominanz westlicher und nördlicher Systeme entfalten. Anstelle eines revolutionären Bruchs liegt der Fokus auf der Entwicklung von Mechanismen zur Reparatur historischer Verluste sowie der Wiedergewinnung von Räumen, die tief in diasporischen und afro-indigenen Wissenssystemen sowie sozialen Strukturen verwurzelt sind. Diese Räume können durch transversale Kooperationen revitalisiert und gestärkt werden, um neue postkoloniale Perspektiven zu eröffnen und langfristig zu etablieren.
Die Dynamik der Süd-Süd-Beziehungen erfordert die Neudefinition einer lokalen und autonomen Epistemologie sowie die Konsolidierung einer Wissenslandschaft, die sich bewusst in einen kritischen Dialog mit dominanten Diskursen und intransparenten Machtstrukturen begibt. Die Bildung solcher Netzwerke ist Ausdruck einer kollektiven Praxis der Selbstermächtigung, die nicht nur bestehende Herrschaftsformen und die Auswirkungen vergangener Machtverhältnisse kritisch hinterfragt, sondern auch aktiv zur nachhaltigen Gestaltung einer multipolaren globalen Ordnung beitragen soll. Durch die gezielte Vernetzung und Sichtbarmachung marginalisierter Wissensformen und Perspektiven werden auf künstlerischer, politischer und sozialer Ebene Transformationsprozesse angestoßen.
1Der Begriff "Globaler Süden" wird häufig verwendet, um eine Vielzahl von Ländern allgemein, jedoch indirekt als "Entwicklungsländer" zu bezeichnen. Diese Kategorisierung spiegelt jedoch oft veraltete, eurozentrische und politisch ungenaue Vorstellungen wider. Eine wirklich gerechte und umfassende politische Bezeichnung, die die Vielfalt und Komplexität der betroffenen Staaten und Gesellschaften angemessen berücksichtigt, ist bislang nicht gefunden worden. Der Diskurs bleibt offen, da er tief in Machtstrukturen, historischen Ungleichheiten und der Frage nach einer neuen, gerechten globalen Ordnung verwurzelt ist.
2Für die kartografische Darstellung der Erde möchte ich anstelle des Begriffs "Atlas" den nichteuropäischen Namen "PACHA MAMA" verwenden. Dieser Name stammt aus der Kultur der Andenvölker und bezeichnet eine Göttin, die die Erde repräsentiert. In der Mythologie der Inka wird sie auch als „Mutter Erde“ verehrt.
Weitere Informationen über seine Arbeit finden Sie unter www.parra.exposed
AUSSTELLUNGEN
SALVE - Performative Installation aus Eis
2024
Buchstaben aus Eis:
je 350 x 450 x 200 mm
Zinkeimer in verschiedenen Größen
Leuchtröhren
Befestigungen aus Metall
Christian Andrés Parra Sánchezs Praxis umfasst sowohl die funktionsbasierte Dimension des Produktdesigns als auch die Entwicklung und Umsetzung von Kunstinstallationen mit performativem Charakter. Mit aktivistischer, kritischer Haltung untersucht er aktuelle soziopolitische Entwicklungen und ihre jeweilige Komplexität.
Im Eingangsbereich des Ausstellungsraumes hängt der aus Eis geformte Schriftzug und wird, vor sich hin tropfend, allmählich verschwinden. In der neuentwickelten Skulptur Salve (2024) verhandelt Parra Sánchez die aus dem römisch-lateinischen Kontext stammende Begrüßung „Salve“ und ihre kulturelle Bedeutung in Deutschland, die nicht nur Goethes ikonische Türschwelle ziert, sondern auch an anderen Stellen Weimars Stadtbild prägt. Zugleich bezeichnet Salve ein miltitärisches Zeremoniell aus dem 16. Jahrhundert, das sogenannte „Begrüßungsschießen“.
Mit dieser ephemeren Interpretation adressiert Parra Sánchez das Überdauern der eigentlich wohlgesinnt gemeinten Begrüßungsform. Wie lange hält das Willkommenheißen „fremder“ Personen eigentlich an? Wann sind die Grenzen der Gastfreundschaft erreicht und wie äußert sich das? In Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Verrohung, in der die Neue Rechte Xenophobie und Rassismus schürt, nicht zuletzt durch sprachliche Mittel, wirkt dieses „Salve“ antiquarisch und deplatziert. Es hängt, im wahrsten Sinne des Wortes am seidenen Faden.
Aufgereihte Zinkeimer fangen die einzelnen Tropfen des Schriftzuges auf und erinnern an eine provisorische Lösung, wenn das Dach eines Hauses beschädigt ist. Diese Behältnisse bringen die Installation zum Klingen. Sie erzählen aus der Heimat von Parra Sánchez, wo in der Regenzeit das Geräusch von Tropfen in improvisierte Behältnisse eine eigene Klanglandschaft abgeben. Die Eimer in der hiesigen Installation stammen aus verschiedenen Thüringer Haushalten und offenbaren symbolisch undichte Stellen.
Diese Arbeit wurde im Rahmen der Ausstellung “Wo ist der Morgen, den wir gestern sahen?” im »nova space« in Kooperation mit dem Kunstfest Weimar 2024 gezeigt.
Ausstellungsort:
nova space – Universitätsgalerie der Bauhaus-Universität Weimar
Berkaer Straße 11
99425 Weimar
Kuratorin: Sophia Scherer
Text: Sophia Scherer und Christian Andrés Parra Sánchez
SALVE - Performative Installation aus Eis
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"SALVE" Bildergalerie
"Gute Nacht!" - POWER HOUSE Episode 02
2022-2023
Polymerbeton mit Bauschutt versetzt
Je 25 x 75 x 55 cm
Mit seinen Arbeiten bewegt sich Christian Andrés Parra Sánchez zwischen künstlerischen Interventionen und Objekten industrieller Produktion, die oftmals gesellschaftspolitische Dimensionen annehmen und Fragen zu sozialer Gerechtigkeit aufwerfen. Seine weiträumige Installation “Gute Nacht!” (2022/23), die aus in Beton gegossenen Kopfkissen besteht, welche sich über das Foyer sowie den Vorplatz des Schiller-Museums erstrecken, thematisiert das Leben wohnungsloser Menschen in prekären Verhältnissen auf der Straße.
Obwohl Obdachlose fast überall zum Stadtbild gehören, sind sie in den wenigsten Fällen wirklich sichtbar; viele Städte und Kommunen entwerfen gar Strategien, wie sie gänzlich aus den Innenstädten vertrieben werden können. Die Kissen aus Beton geben symbolische Sichtbarkeit und thematisieren unseren Umgang mit dieser Schwelle zwischen einem Zuhause und keinem Zuhause, welche durch politische Unruhen, Flucht, steigende Preise für Lebensmittel und Energie fragiler denn je geworden ist.
Die Arbeit ist Teil der Ausstellung
POWER HOUSE
Episode 02
no one belongs here more than you
ab 25.05.2023 nova space @ Schiller-Museum
Schillerstr. 12, 99423 Weimar
Text: Katharina Wendler - Kuratorin / Leitung