Half Measures

Das Einfamilienhaus zur Disposition

Julia von Mende, Hanna Schlösser

Die immer weiter wachsende Pro-Kopf-Wohnfläche in Deutschland mit den entsprechenden Folgen in Bezug auf Flächenversiegelung, Material- und Energieverbrauch steht der Abmilderung des Klimanotstands diametral entgegen und birgt ein enormes Treibhausgasminderungspotenzial (Fischer et al., 2016; Kenkmann et al., 2019: 30). Ihre Reduktion auch durch mögliche Neuordnungen von Nutzungen adressiert unmittelbar die Planungspraxis.

Etwa 16 Millionen Einfamilienhäuser (Destatis, 2021: 16)1 stehen in Deutschland 83 Millionen Einwohner*innen gegenüber. Ein Großteil davon sind Eigenheime im suburbanen Kontext, eine Wohnform, die nach wie vor ungebremste Nachfrage erlebt. Man könnte also meinen, dass allein sie theoretisch genug Wohnraum für die Bevölkerung stellen würden. Zudem sind große Flächenanteile dieser Eigenheime verwaist, was nicht zuletzt dem demografischen Wandel geschuldet ist. Es gibt also eine Menge Fläche, aber wie kann sie aktiviert und zugänglich gemacht werden im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation?

Als konkrete Handlungsoption wird in Studien des Umweltbundesamts zum Beispiel die Teilung von Einfamilienhäusern vorgeschlagen (Kenkmann et al., 2019: 70 ff.). Warum also nicht mal halbe Sachen machen, im Sinne der Verringerung des Flächenbedarfs? Jedoch: „Wohnen ist konservativ“ (Selle 1996:7). Dies trifft insbesondere auf das Eigenheim in seiner baulichen Form des Einfamilienhauses zu. Und die Wohnpraktiken scheinen zäh. Bei der Frage nach dem ‚Wie‘ einer solchen Kursänderung, kann aber das implizite Wissen und das wissende Handeln der Bewohner*innen selbst – auch über mehrere Generationen – hilfreich sein.

Im Seminar wollen wir daher anhand von Fallbeispielen, Parameter für eine baulich-räumliche Transformation des Einfamilienhauses, das sich als eine Art typologische Einbahnstrasse in Sachen Flächenfraß zeigt, aus Bewohner*innenperspektive empirisch eruieren. Welche Beweggründe gab es, ins Einfamilienhaus zu ziehen? Wie wird gewohnt? Was hat sich im Lauf der Zeit bewährt? Was ist überflüssig? Was kann geteilt werden? Welche Qualitäten werden geschätzt? Was wird vermisst? Welche Wohnwünsche – auch an das Wohnumfeld – zeigen sich?

Im Rahmen eines forschenden Lehrformats als Teil der interdisziplinären Forschungswerkstatt Krise und Transformation des Eigenheims (11/22-10/23) werden Wohnpraktiken im Einfamilienhaus und deren Wandel im Lauf der Zeit und spezifische räumliche Qualitäten anhand von Interviews und visuellen Methoden (u.a. Modelle, analytische Zeichnungen) in Anlehnung an ethnografische Forschungsansätze gemeinsam mit den Studierenden untersucht und sichtbar gemacht. Anhand des möglichen Wissensfundus‘ an Praktiken des Energiesparens, Lagerns, Wiederverwertens, Reparierens, Anpassens, Umnutzens u.s.w. sollen Handlungsoptionen für baulich-räumliche Transformationen ermittelt werden. Ziel ist es, in diesem ersten Schritt Fragen als Grundlage für baulich-räumliche Interventionen im Bestand und programmatische Anpassungen im Wohnumfeld zu erarbeiten. Eine Weiterbearbeitung auf Grundlage der empirischen Analyse des ‚Wie es ist‘ wird im Wintersemester 2023/24 in Form eines architektonischen Entwurfsseminars angestrebt.

1 Bestand an Wohngebäuden mit einer und zwei Wohnungen.

Referenzen:

Destatis (2021). Gebäude und Wohnungen. Bestand an Wohnungen und Wohngebäuden, Bauabgang von Wohnungen und Wohngebäuden. Lange Reihen ab 1969 – 2021. www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Wohnen/Publikationen/Downloads-Wohnen/fortschreibung-wohnungsbestand-pdf-5312301.pdf

Fischer, C., Blanck, R., Brohmann, B., Cludius, J., Förster, H., Heyen, D. A. et al. (2016). Konzept zur absoluten Verminderung des Energiebedarfs: Potenziale, Rahmenbedingungen und Instrumente zur Erreichung der Energieverbrauchsziele des Energiekonzepts. Dessau: Umweltbundesamt. Verfügbar unter: www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/378/publikationen/climate_change_17_2016_konzept_zur_absoluten_verminderung_des_energiebedarfs.pdf

Kenkmann, T., Cludius, J., Fischer, C., Fries, T., Keimeyer, F., Schumacher, K. et al. (2019). Flächensparend Wohnen Energieeinsparung durch Suffizienzpolitiken im Handlungsfeld „Wohnfläche“. Dessau-Roßlau. www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/1410/publikationen/2019-09-05_texte_104-2019_energieverbrauchsreduktion_ap1_wohnen_final.pdf

Selle, G. (1996). Die eigenen vier Wände : zur verborgenen Geschichte des Wohnens (2. Aufl. ed.). Frankfurt am Main ; New York: Campus.