![Maria Hartmann und Gloria Kohlhepp forschen gemeinsam, wenngleich aus unterschiedlichen Blickwinkeln an der multifunktionalen Fassade VertiKKA, die im Hintergrund zu sehen ist und aktuell in der Coudraystraße erprobt wird. Foto: Thomas Müller](/fileadmin/_processed_/9/5/csm_Vertikka_aa4bcf8729.png)
BAUHAUS.INSIGHTS: Grünere Fassaden in unseren Städten – wird VertiKKA eine Lösung dafür sein?
Die globale Bevölkerung wächst stetig und mit ihr der Urbanisierungstrend. Immer mehr Flächen werden versiegelt. Immer mehr Grün wird zu Grau – auch innerhalb der Städte. Ohne Pflanzen aber, die unsere Stadtluft kühlen und reinigen, nehmen sowohl die Hitzeinseln als auch die Feinstaubbelastung dramatisch zu. Außerdem führen starke Regenfälle immer häufiger zu Überschwemmungen, wenn das Wasser, statt in Grünflächen zu versickern, nur in die Kanalisation abfließen kann. Um dauerhaft lebenswert zu bleiben, brauchen unsere Städte also mehr Vegetation, ohne dafür die ebenso immer stärker benötigten Nutzungsflächen einzubüßen. Innovative Lösungen wie das Projekt VertiKKA an der Fakultät Bau und Umwelt setzen genau da an.
Die multifunktionale Grünfassade verringert nicht nur lokal die sommerliche Hitze und verbessert die Luftqualität, sondern entlastet auch die städtischen Kanäle durch Grauwasserreinigung. Obendrein erzeugt sie Strom durch vorgehängte Solarmodule. Seit dem 5. September 2024 wird die VertiKKA als Reallabor an der Fassade des b.is-Technikum in der Coudraystraße 10 getestet. Maria Hartmann M.Sc., Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur Bauphysik, und Gloria Kohlhepp M.Sc., Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur Siedlungswasserwirtschaft und Technologien urbaner Stoffstromnutzungen, überwachen diese Testphase und entwickeln die VertiKKA mit den gewonnenen Erkenntnissen während der nächsten Jahre weiter.
Frau Hartmann, Frau Kohlhepp, natürlich gibt es bereits zahlreiche Systeme für Photovoltaik-Module an Wohngebäuden, für Grauwasserreinigung und auch Möglichkeiten zur Fassadenbegrünung. Der innovative Kern von VertiKKA aber ist gerade das Zusammenspiel dieser drei Komponenten. Wie funktioniert das und wieso wirken sie gemeinsam besser als getrennt?
Gloria Kohlhepp: Die VertiKKA ist aus drei Schichten aufgebaut. Von der Wand aus gesehen, kommt die Reinigungs- und Bewässerungsebene zuerst, dann die Pflanzenebene und abschließend die Photovoltaik-Ebene. Alle drei Schichten sind miteinander verbunden und arbeiten synergetisch. Die Reinigungs- und Bewässerungsebene hat die Aufgabe, Grauwasser von Schadstoffen zu befreien. Gleichzeitig bewässert sie durch ein verbindendes Vlies die vorgehängten Pflanzen. So können wir auf eine Bewässerung der Pflanzen mit Trinkwasser komplett verzichten. Ein zentraler Vorteil dieses Zusammenspiels ist der Nährstoffgehalt im Grauwasser: Was üblicherweise als Schadstoff gilt, ist für die Pflanzen ein wichtiger Nährstofflieferant. Wenn die Pflanzen dann die Nährstoffe aus dem Grauwasser aufnehmen, verbessert das einerseits die Reinigung des Wassers und macht andererseits zusätzliche Düngung überflüssig.
Maria Hartmann: Wie wir schon im vorangegangenen Projekt zur VertiKKA zeigen konnten, sind das gute Wachstumsbedingungen für die Pflanzen. Aber die Grünfassade funktioniert auch bei Südausrichtung, wenn die Pflanzen normalerweise starker und andauernder Sonneneinstrahlung ausgesetzt wären. Denn die vor ihnen angebrachten semitransparenten Photovoltaik-Module produzieren nicht nur Strom, sondern schützen die Pflanzen auch vor »Hitzestress«. Zudem kühlen Pflanzen sich bei Hitze selbst durch Verdunstung. Die Vliestaschen hinter ihnen verstärken diesen Effekt noch. Durch diese Kombination, die sogenannte Evapotranspiration, werden die Photovoltaik-Module gleich mitgekühlt, wodurch ihr temperaturabhängiger Wirkungsgrad steigt. Außerdem sorgen ein Windgeschwindigkeitsmesser und eine gekoppelte, automatisierte Steuerung dafür, dass die beweglichen Module bei Sturm in eine vertikale Position klappen. Dadurch entsteht eine geschlossene Fläche vor den Pflanzen, die diese vor dem Ausreißen schützt.
Würde VertiKKA auch in enger bebauten Stadtteilen mit weniger Sonneneinstrahlung einsetzbar sein?
GK: Grundsätzlich sollten Städte als Lebensräume für Menschen so gestaltet sein, dass ausreichend Licht und Luftzufuhr gewährleistet sind. Dennoch könnte eine dicht bebaute Struktur in manchen Aspekten sogar Vorteile für VertiKKA bieten. In dicht bebauten Räumen sind die täglichen Temperaturschwankungen etwas geringer, was den Mikroorganismen, die unter anderem für die Reinigung des Grauwassers verantwortlich sind und von stabilen Bedingungen profitieren, entgegenkommt. Betrachtet man die Pflanzenebene, fühlen sich die meisten Pflanzen auch noch bei länger verschatteter Ost- oder Westausrichtung der VertiKKA wohl. Der Schlüssel liegt in der angepassten Pflanzenauswahl. Es ist gut vorstellbar, gezielt Arten zu integrieren, die mit überwiegend schattigen und feuchten Bedingungen zurechtkommen.
MH: Derzeit betreiben wir im Reallabor auch zwei verschiedene Modulstränge: einen mit und einen ohne Solarmodule, um die Auswirkungen auf die Pflanzenvitalität zu monitoren. Natürlich wäre es auch denkbar, die VertiKKA an wenig besonnten Fassaden ohne die Photovoltaik-Ebene zu errichten, wenn der Betrieb der Solarmodule nicht mehr wirtschaftlich wäre.
Wie wird der überschüssige Strom genutzt, den die Solarmodule produzieren?
GK: Im Rahmen des Reallabors in der Coudraystraße werden die Photovoltaik-Module aktuell als Balkonkraftwerk betrieben. Das bedeutet, die Anlage ist über einen normalen Stecker direkt mit dem Stromnetz verbunden. Derzeit nutzen wir jedoch den gesamten erzeugten Strom für den Betrieb der VertiKKA selbst.
MH: Ja, genau genommen ist der Stromertrag des Reallabors sogar deutlich geringer als der eines Balkonkraftwerks mit vergleichbarer Photovoltaik-Fläche, denn die Solarmodule der VertiKKA sind „den Pflanzen zuliebe“ zu 50% transparent, wobei natürlich nur der opake Anteil Strom produzieren kann – also eine Entscheidung mit kleinen Vor- und Nachteilen. Aber die Stromproduktion ist ja auch nur eine Teilfunktion der Anlage.
GK: Das stimmt. Um noch eine Perspektive zu ergänzen: Langfristig betrachtet, wenn die Photovoltaik-Fläche erweitert wird, kann der überschüssige Strom entweder wie bei anderen Solaranlagen im Gebäude genutzt oder in das öffentliche Stromnetz eingespeist werden. So lässt sich die Energienutzung noch effizienter gestalten und ein Beitrag zur dezentralen Stromversorgung leisten.
Welche Pflanzen eignen sich für die Fassadenbegrünung mit VertiKKA? Sind auch Nutzpflanzen denkbar?
MH: Wie von Frau Kohlhepp schon angesprochen, sollte die Pflanzenauswahl natürlich an den Standort angepasst werden. Generell eignen sich jedoch immer wasserliebende Sumpfpflanzen. Das liegt daran, dass für die gewünschte Verbesserung des Mikroklimas und auch für die Kühlung der Solarmodule der sogenannte Blattflächenindex entscheidend ist. Dieser Index beschreibt die (einseitige) Blattfläche über der Substratfläche: Je größer die Blattfläche, desto größer die Auswirkungen, die wir für die Kühlung anstreben.
GK: Neben einem hohen Blattflächenindex müssen die Pflanzen aber noch andere Anforderungen erfüllen. Sie sollten nicht zu hoch wachsen, um nicht gegen die Photovoltaik-Module zu stoßen und auch um den Pflegeaufwand, vor allem für regelmäßiges Zurückschneiden, gering zu halten. Außerdem ist es wichtig, winterharte Pflanzen zu nehmen, damit man sie nicht jedes Frühjahr neu pflanzen muss. Besonders vorteilhaft sind natürlich wintergrüne Pflanzen, weil sie auch in den kalten Monaten für ein attraktives Erscheinungsbild sorgen. Nutzpflanzen allerdings – wir kriegen diese Frage häufig – sind aus Sicherheitsgründen nicht geeignet. Zwar könnten einige von ihnen die feuchten Bedingungen in der Anlage durchaus tolerieren, aber auch sie nehmen Schadstoffe aus dem Grauwasser auf. Diese Schadstoffe könnten sich in den Wurzeln und Früchten anreichern und wären beim Verzehr potenziell gesundheitsschädlich. Um Passanten zu schützen und zu verhindern, dass Früchte direkt von der Anlage gepflückt und gegessen werden, verzichten wir daher bewusst auf den Einsatz von Nutzpflanzen.
Wie wird das Grauwasser aus Dusche, Waschbecken, Küchenspüle und Waschmaschine vorgereinigt, bevor es in den Reinigungskörper der VertiKKA kommt?
GK: Das Grauwasser wird in zwei oben miteinander verbundenen IBC-Tanks gesammelt, die dafür im Keller des Hauses aufgestellt sind. Das Grauwasser fließt zunächst in den ersten Tank. Sobald dieser voll ist, läuft das Wasser in den zweiten Tank über. Dabei setzen sich im ersten Tank Feststoffe wie Lebensmittelreste oder Flusen aus der Waschmaschine ab. Fett aus der Küche, das auf der Wasseroberfläche schwimmt, wird jedoch weiter in den zweiten Tank geleitet. Das Wasser für die VertiKKA wird schließlich unten am Auslass des zweiten Tanks entnommen, sodass das Fett zurückbleibt. Diese Methode ermöglicht eine mechanische Reinigung des Grauwassers ganz ohne zusätzlichen Energieaufwand. Im Reallabor der VertiKKA in der Coudraystraße gibt es zusätzlich zwei weitere Tanks zur Zwischenspeicherung des Grauwassers. Auch hier können sich verbleibende Feststoffe absetzen und restliches Fett kann aufschwimmen. Das vorgereinigte Wasser wird aus der »sauberen« mittleren Wasserschicht der Tanks entnommen und durch einen groben Filter geleitet, bevor es in die VertiKKA gelangt. Dort erfolgt dann die mechanisch-biologische Reinigung durch Mikroorganismen, die Schadstoffe weiter abbauen und das Wasser aufbereiten.
Seit dem 5. September 2024 ist das VertiKKA-Reallabor an der Fassade der Coudraystraße 10 in Weimar offiziell in Betrieb. Gibt es schon erste Erkenntnisse oder Ideen für eine Weiterentwicklung des Prototyps?
GK: Die Langzeitmessungen zur VertiKKA-Anlage haben ja erst vor wenigen Wochen begonnen. Glücklicherweise werden diese Messungen aber im Rahmen eines Folgeprojekts noch mindestens drei Jahre fortgeführt, sodass wir aussagekräftige Daten zur Performance der Anlage erhalten werden. Trotzdem konnten wir schon erste Erkenntnisse aus dem Aufbau und Betrieb der Anlage gewinnen. Beispielsweise werden wir das Design der Modulkästen weiterentwickeln, um das Reinigungssubstrat künftig einfacher austauschen zu können. Außerdem hat unser regelmäßiges Pflanzenmonitoring gezeigt, dass sich zwei der acht eingesetzten Pflanzenarten nicht eignen. Wir werden also bei der Auswahl nachsteuern. Im Rahmen von kleineren Testmodulen konnten wir außerdem bereits erste Ergebnisse zur Reinigungsleistung der Anlage in Bezug auf bestimmte Schadstoffparameter erzielen. So konnte beispielsweise eine Reduzierung vom Gesamt-Stickstoff durch die Reinigung im Substrat festgestellt werden.
MH: Neben bauphysikalischen Messungen haben wir auch bereits diverse energetische und mikroklimatische Simulationen durchgeführt. Dabei zeigten sich bisher durchweg positive Effekte. Beispielsweise werden schnell und stark aufheizende Fassadenflächen in der Stadt durch die VertiKKA verschattet, was sich positiv auf das thermische Empfinden der Stadtbewohnenden im Sommer auswirkt. Gleichzeitig verringert die VertiKKA den Wärmetransport durch die Außenwand und damit die aufzuwendende Heiz- oder Kühlenergie. Auch konnten wir bereits zeigen, dass – entgegen unserer anfänglichen Erwartungen – kein erhöhtes Tauwasserrisiko an der Fassade besteht, und das obwohl die VertiKKA natürlich eine Feuchtequelle in unmittelbarer Nähe zur Gebäudewand darstellt. Als letzten Punkt möchte ich noch erwähnen, dass wir auch schon Nachhaltigkeitsbetrachtungen angestellt haben. Beispielsweise könnte der größte Anteil des Substratgemischs, das Blähglasgranulat, durch Alternativen ersetzt werden, die aus Bauschutt wie Ziegel, Porenbeton oder Mauerwerksbruch hergestellt werden.
Der Prototyp ist ja sehr augenfällig. Stimmen die bisherigen Reaktionen eher positiv oder skeptisch, dass Bewohnerinnen und Bewohner solche Module an ihren Häusern dulden würden?
MH: Bisher hatten wir schon einige Gelegenheiten, mit Interessierten aus unterschiedlichen Kontexten zu sprechen – seit der Eröffnung der VertiKKA Anfang September 2024 zuletzt ja auch bei der Langen Nacht der Wissenschaften. Das allgemeine Interesse ist sehr groß und die Leute wollen wissen, wie das System funktioniert. Öfter bekommen wir auch kritische Fragen, die zeigen, dass wirklich über die Anwendung in der Praxis nachgedacht wird. Diese zu diskutieren – darüber freuen wir uns immer sehr. Bisher haben wir durchweg positive Reaktionen bekommen. Uns wurde sogar schon die ein oder andere Hauswand als Testwand angeboten und wir haben bereits zwei Anfragen von Ingenieurbüros erhalten, die Grünfassaden in ihre Planung integrieren wollen.
Liebe Frau Hartmann, liebe Frau Kohlhepp, wir danken Ihnen sehr für dieses interessante Gespräch!
Die BAUHAUS.INSIGHTS-Fragen zum Projekt »VertiKKA« stellte der freischaffende Redakteur Franz Löbling.