Abstracts

I

Raumpolitik und Herrschaft um die Mitte des 20. Jahrhunderts

Die Ökonomisierung der Macht. Raumpolitik in Mittel- und Osteuropa 1938-1945

Richard Němec
Institut für Kunstgeschichte, Universität Bern; Amt für Denkmalpflege Kanton Thurgau

Der Glaube an den „neuen deutschen Lebensraum“ erfuhr unter den Nationalsozialisten eine besondere Ausprägung. Die Mittel waren vielfältig, die Bandbreite der Kolonisation im Umfeld von Machtausbau, Krieg und Besatzung erstreckte sich von den ideologischen Prämissen bis hin zu ökonomischen Belangen. Städtebau, Architektur und Raumplanung hatten hierbei eine Schlüsselfunktion übernommen. Der Vortrag exemplifiziert dies anhand ausgewählter Zentralorte in den vom nationalsozialistischen Deutschland okkupierten oder annektierten Territorien in Mittel- und Osteuropa. Im Sinne einer Grundlagenforschung verfolgt sie einen diskursanalytischen Zugang zu den Raumtheorien. Städtebau und Architektur werden vor den Koordinaten der mehrschichtigen architekturgeschichtlichen Zusammenhänge, ihrer Nachhaltigkeit und ihren Kontinuitäten sowie den damit verbundenen Theorie- und Ideologiebildungen untersucht. Näher betrachtet werden aber auch die personalen Netzwerke, da sie über zentrale Momente Aufschluss geben: Entwurf und Bau lagen oft nicht allein in den Händen „reichsdeutscher“ Planer, beteiligt waren immer wieder auch einheimische Fachkräfte. Dies erlaubt es der wissenschaftlichen Beurteilung, jenseits der Dichotomie des Vorwurfs niederträchtiger Kollaboration und eines exkulpatorischen Verständnisses eine sozioökonomisch motivierte Kollaboration in ihrem Kontext darzustellen.

Städtebau als Ausdruck der neuen Mittelschichten unter der portugiesischen Diktatur 1932-1955

Christian von Oppen
Center for Metropolitan Studies, TU Berlin

Die portugiesische Diktatur unter Salazar wird bis heute in der Städtebaugeschichtsschreibung wenig beachtet. Sie gilt oft als rückwärtsgewandt, modernisierungsfeindlich, als Hort der Stagnation. Ein Bild, das dem überlieferten Städtebau nicht gerecht wird.

Anfang der 1930er Jahre startete die Salazar-Diktatur eine Verwaltungsreform, in deren Folge die kommunale Selbstverwaltung ausgeschaltet und die Entscheidungsbefugnis in Lissabon zentriert wurde. 1935 wurde ein 15-Jahres-Plan zur Wiederbelebung der Wirt-schaft beschlossen. Dringend benötigte Projekte zur Verkehrserschließung wie Häfen, Flughäfen, Eisenbahninfrastruktur und Autobahnen, aber auch zur Strom- und Wasserversorgung wurden realisiert. Parallel wurde das Bildungs-, Bank-, Gesundheits- und Postwesen ausgebaut.

Das Infrastrukturprojekt der Diktatur war ein gewaltiges Arbeitsbeschaffungsprogramm, das auch die  Herausbildung neuer Mittelschichten förderte. Es erstreckte sich zudem auf den staatlich geförderten  Wohnungsbau sowie auf den Ausbau der Zentren. In beiden Fällen waren die neuen Mittelschichten die  größten Nutznießer. Das gilt auch für den staatlich verregelten privaten Wohnungsbau vor allem in Lissabon. Mit dem staatlich gesteuerten Stadtumbau begann ein umfangreicher Verdrängungsprozess von unteren  Einkommensschichten aus innerstädtischen Quartieren, für die weitab vom Stadtrand hinter den Stadterweiterungsgebieten neue Schlichtsiedlungen gebaut wurden.

Die Infrastrukturprojekte standen für den Aufbruch in ein neues Zeitalter. Das gilt für die Ingenieurbauwerke wie für die Universitätsstädte. Die Bauten waren ein Werk der neuen Wissenschaftselite, sie dienten auch  der Huldigung dieser sozialen Gruppe – eines zentralen Bestandteils der neuen Mittelschichten. Der  Ingenieur war der neue Held der Gegenwart, der mit seinem Können das portugiesische „Imperium“ zu  neuer Größe verhelfen sollte. Verkörpert wurde dieser Held durch den führenden Ingenieur der Diktatur, den einflussreichsten Städtebauer, den bis heute in Portugal allseits verehrten Duarte Pacheco, Minister für  Öffentliche Arbeiten unter Salazar.

Die Vielfalt der Funktionen des Städtebaus im frühen Franquismus 1938- 1959

Max Welch Guerra
Bauhaus-Universität Weimar

Die räumliche Planung und die städtebauliche Gestaltung des Franquismus wurden jahrzehntelang von der internationalen Forschung ignoriert, auch nachdem die Isolierung Spaniens ab den 1960er Jahren wegfiel. Was war schon von einer Diktatur zu erwarten, die bis Ende der 1950er den Städtebau in den Händen der Falange beließ, einer Massenorganisation, die der SA nicht unähnlich war?

Der nähere Blick auf drei kleinere Städte gibt Aufschluss über ein überraschendes Kapitel spanischen Städtebaus europäischer Bedeutung. Die Putschisten um General Franco begannen 1936 einen grausamen Bürgerkrieg gegen die Republik, den sie 1939 gewannen – aber schon ab 1938 haben sie den Städtebau zu einer Säule des „Neuen Staates“ erhoben, zu einem tragenden Element ihrer Herrschaft. Eines der wichtigsten Handlungsfelder der Planung war der Wiederaufbau von kriegszerstörten Klein- und Mittelstädten. Gemessen an den Nöten der Nachkriegszeit waren die administrativen und finanziellen, die fachlichen wie die propagandistischen Ressourcen, die diesen Vorhaben in der Provinz gewidmet wurden, üppig.

Die Falange hat den Städtebauern einen beträchtlichen gestalterischen Freiraum gewährt. Die sehr unterschiedlichen Lösungen kombinieren die Fortschritte des zeitgenössischen Städtebaus mit einem zuweilen einfallsreichen, aber immer reaktionären ideologischen Programm. Deren Wirkung hat sich im Laufe der Zeit stark verändert, für die Diktatur wie für die jeweilige Bevölkerung. Ob in der von deutschen und italienischen Fliegern zerstörten mythischen Stadt des Baskenlands, Gernika, oder in den Orten heroischer Kriegsnarrative Brunete und Belchite – die Materialität des Städtebaus im Auftrag der Falange dominiert dort heute noch. Die jeweilige Stadtgesellschaft, freilich, geht heute sehr unterschiedlich damit um.

II

Räumliche Politik im Staatssozialismus

ČSSR – Prague Panel Housing Estates from High Modernism to Post-modernism

Petr Roubal
Institute of Contemporary History, Academy of Sciences of the Czech Republic, Prag

The Khrushchev’s speech on architecture in 1954, which effectively ended the Socialist Realism in Czechoslovakia, gave a great encouragement to the visions of the interwar architectural avant-garde of transforming urban planning into social planning. However, it soon became evident that the power the urban planners and architects acquired over urban planning did not reach far enough to enable them to influence the actual form of the housing estates and other, primarily traffic, infrastructure projects. The troubling examples of the first completed housing estates gave further impetus to the existing concerns over the validity of the modernist principles in urban planning, which had been infiltrating Czechoslovakia from the West since the mid-1960s. In the 1970s, these concerns were joined by several external pressures that made the realization of the modernist panel estates highly problematic: energy crisis, land protection legislation and re-evaluation of heritage protection of the Belle Époque city quarters.

The response of the urban planners and architects during the so-called consolidation period (post 1968 era) was to imitate “city-like” forms, such as traditional streets and small squares in panel-housing estates. Though these plans resulted in interesting early post-modern realizations, no fundamental change in the construction of housing estates was achieved. Having the responsibility for urban planning, but being unable to influence the final shape of the city eventually led to a sense of frustration among the urbanists. After exhausting different subversive tactics, they often crossed the narrow professional boundaries and addressed the broader public. By turning a professional debate into a political debate, the urbanists contributed to the delegitimization of state-social governance at the end of the 1980s. However, this also weakened their own professional position and their influence on the post-November development of the city.

Träume und Räume einer Revolution –Städtebau und Architektur in Kuba 1959-2019

Manuel Cuadra
Universidad Nacional de Ingeniería, Lima

Die vorliegende architektur- und städtebaugeschichtliche Darstellung richtet sich nach den lokalen, speziell kubanischen historischen Fragestellungen und Entwicklungen – wie auch die folgende Periodisierung, wird sie sozusagen von innen heraus konzipiert:

Inbesitznahme: die Architektur der Rebellion – die Stunde null

Der auch baulich sehr bewusst und medienwirksam inszenierte Akt der Inbesitznahme des Landes kennzeichnet die ersten Tage, Wochen und Monate der kubanischen Revolution. Die entfesselten Potenziale der technischen Intelligenz – die "heroischen" 1960er Jahre. Das erste Jahrzehnt war geprägt von Idealismus und einem Glauben an eine Modernität, die Abhängigkeiten und prekäre Lebensverhältnisse hinter sich lassen sollte. Im Zuge dessen wurde über die Grenzen der Städte hinaus investiert; in ganz Kuba entstan-
den etwa landwirtschaftliche Siedlungen, die ein anderes, insgesamt besseres Leben ermöglichen sollten.

Industrialisierung – die Ästhetik der Serie der 1970er Jahre

Wirtschaftlich mit der Blockade durch die USA konfrontiert, kam der Beziehungen zur Sowjetunion eine wichtige Rolle zu. Das zu entwerfende Bild eines neuen Menschen stand nun unter dem Vorzeichen der Industrialisierung. Landesweit entstanden Systembauten: es war die große Zeit der Vorfertigung.

Die neue Mitte – die Architektur der sozialistischen Stadt der 1980er Jahre

In den 1980er Jahren wurden neue städtebauliche Anlagen in Form der Plazas de la Revolución konzipiert, aber nicht in Gänze realisiert. Mittels der baulich ausgeführten Teile lässt sich dennoch das Konzept einer neuen Mitte für die neue sozialistische Stadt erkennen.

Strategien des período especial – die Ästhetik des Überlebens seit den 1990er Jahren

Ab 1990 entfiel die Unterstützung der RGW-Staaten: Kuba versucht seitdem, die mit den Bedingungen der globalen Märkte für die Länder der Dritten Welt verbundenen Asymmetrien durch joint ventures etwa mit internationalen Hotelketten zu neutralisieren. Parallel dazu besteht ein gesellschaftlicher Alltag, nun geprägt durch die Grenzen staatlicher Versorgungsmöglichkeiten und durch das Bemühen, die Errungenschaften des Sozialismus zu erhalten. Wie dieser Spagat im Alltag versucht wurde, illustriert La Habana, wo systematisch in die Stadterneuerung mit dem Ziel investiert wurde, Habana Vieja als globale Destination des urbanen Kulturtourismus zu positionieren und zugleich als lebendige soziale Stadt zu erhalten.

Großer Plan und kleiner Eingriff. Altstadterneuerung und Ökonomie in der DDR.

Jannik Noeske
Bauhaus-Universität Weimar

Wie kam es dazu, dass der Verfall der Altstädte 1989 als Symbol des Scheiterns der DDR, manchmal des Sozialismus insgesamt gedeutet wurde? Welche Rolle spielten die Volkswirtschaftsplanung in Verbindung mit den Generalbebauungsplänen als gesamtstädtische Entwicklungsplanungen für die Städte? Das enge Korsett der Ressourcenzuweisung und der Planbilanzen beeinflusste den Städtebau in allen Städten und in allen Phasen der ehemaligen DDR: Den Wiederaufbau in den 1950er Jahren, die Planung für die Stadtzentren in den 1960ern und nicht zuletzt den Wohnungsbau ab 1973. Auch der Umgang mit Altstädten war maßgeblich von der zentralstaatlichen Ressourcenzuweisung sowie von der Eigentumsstruktur der Wohnbausubstanz abhängig.

Der Beitrag beleuchtet die Stellung der Volkswirtschaftsplanung für die Altstadterneuerung in der DDR zwischen 1980 und 1990. Dabei wird in den Blick genommen, wie besonders die Ergebnisse quantitativer Wissensproduktion für die erhaltende und erneuernde Stadtentwicklungsplanung herangezogen wurden. Für die späten 1980er Jahre gilt es, den Altstadtverfall nicht nur als Krisensymptom zu beschreiben, sondern auch zeitgenössische Krisendiagnosen zu analysieren. Welche bauökonomischen Reformvorschläge wurden wiederum in den Umbruchjahren 1989 und 1990 verhandelt? Schließlich blicken wir auf die Zukunftsvorstellungen einer Zeit nach 1990, die nie eingetreten ist.

Mein Blick berührt stellenweise die Stadtentwicklung Stralsunds, eine mittlere Stadt mit schon damals geschütztem Stadtensemble im wirtschaftlich hervorgehobenen Ostsee-Bezirk Rostock.

III

Postsozialistische Stadt – Räumliche Politik und die Wiedereinführung kapitalistischer Verhältnisse

Changing political system and changing urbanism after socialism

Mariusz Czepczyński
University of Gdańsk

Urbanism, understood as both the way of life characteristic of cities and the development and planning of cities / towns, reflect two major characters of urbanity. The urban milieu, in both architectural and social dimensions undergoes constant transformations, while the urban space is being socially and technically formed. This social production of urbanity, paraphrasing the Lefebvrean term, is a complex public construction, based on values, and the social production of meanings. It affects spatial practices, perceptions, policies, and results in changing forms and structures. The process is focused on the contradictory, conflictual, and, ultimately, emphasises political character of the processes of urbanity.
The facilitation of urban space and urban lifestyle serve as a tool of thoughts and of action in addition to being a means of production it is also a means of control, and hence of domination, of power. Social production of urbanism is fundamental to the reproduction of society and is commanded by a hegemonic class as a tool to reproduce its dominance (Gramsci). The political (re)production of urbanism is always most clearly visible in the times of major transitions. One of the best recent examples is the collapse of the state Socialism / Communism in 1989-91. The paper focuses on the direct and indirect impacts of the political transformation on urban planning and urban lifestyles in Central Eastern European and Central Eurasian cities. The Lefebvre’s modes of production of urban space will be employ to interpret and construe the ongoing urban trends and exemplify everyday practices, representations and imaginaries of the contemporary post-socialist urbanism.

The Reinvention of Urbanism as a Political Project – Urban Renewal in Contemporary Russia

Daniela Zupan
Institut für Europäische Urbanistik, Bauhaus-Universität Weimar

While urbanism was central to the governing of Soviet society, the collapse of the Soviet Union was followed by what became widely known as the laissez-faire period of Russian urban development characterized by a strong state retreat. The last decade, however, has seen strong recentralization, rising authoritarianism, and comprehensive attempts by the federal authorities to re-establish urbanism as a central political project.

Against this background I explore if and how these trends manifest itself in housing. Housing in general, and Khrushchev’s mass housing program in particular, formed an integral part of the post-Stalin social contract. It was widely perceived as a gift of the Soviet welfare state and served as a regime-sustaining mechanism. While housing remained in the spotlight of public discourse throughout the post-Soviet period, state interference was minimized during the 1990s and condemned as inhibiting the emergence of a housing market. Recent processes indicate a shift.

In 2017, Moscow Mayor Sergey Sobyanin and Russian President Vladimir Putin announced a new program to the public, the Moscow Housing Renovation program. The program foresees the demolition of several thousand residential buildings from the Soviet era, in particular the so-called Khrushevki, which are to be replaced by new buildings. Shortly after the announcement of this program, attempts started to expand its scope to deal with the housing stock of the Soviet era all over the country. The latter resulted in a new bill being adopted in December 2020, which became known as the “all-Russian renovation”. What are the main drivers behind these programs? What do they tell us about the reconfiguration of state-society-relations in contemporary Russia? And are we perhaps witnessing a reinvention of the Soviet-style governing through housing?

National Capital: The Politics of Urban Heritage in Budapest After 2010

Marcell Hajdu
Graduierten-Kolleg Identität und Erbe, Bauhaus-Universität Weimar

Hungary’s current government came to power in 2010, when a coalition led by Viktor Orbán won a two-thirds constitutional majority in the country’s general elections. As declared in a programmatic document issued shortly thereafter, this was to mark the beginning of a new political, social and economic era. The consequent developments that unfolded throughout the last decade were scrutinized by numerous commentators, as a foremost example within Europe for the recent global democratic regression and the rise of increasingly authoritarian nationalist regimes.

The two preceding decades following the country’s transition from state-socialism to a capitalist liberal democracy were characterized by a political space polarized between two camps that took turns in power. During this period only a few symbolic projects were carried out in Budapest aiming at the representation of post-socialist Hungarian nationhood. This has fundamentally changed after 2010 and the capital underwent rapid transformation. The defining feature of this transformation is the prevalence of government-initiated large-scale urban development projects altering the city’s most important symbolic spaces.

Urban heritage plays a central role in the government’s populist national identity construction, however this is only one of several reasons for its prevalence. Tourism and construction being two of the most important economic sectors on which the country’s economic policy relies, these developments play a fundamental role in the empowerment of a new loyal national economic elite as well. Such projects also serve as a vehicle for centralization efforts in governance and within other institutional structures. A thorough study of Budapest’s recent development has to account for the entanglement of these factors.

Berliner Stadtplanung. Rückblick auf 30 Jahre Zusammenwachsen.

Katrin Lompscher
Ehemalige Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen, Berlin

Berlin seit dem Mauerfall bis heute ist eine widersprüchliche Stadt und in dem Versuch bei sich zu bleiben und zu sich zu kommen voller Brüche. Die räumliche Planung versuchte der Wiedereinführung kapitalistischer Verhältnisse gleichermaßen zu trotzen und entgegenzukommen. Privatisierungspolitik, Metropolenträume und Hauptstadtanspruch führten in der inneren Stadt zu einer überhitzten Planungs- und Entscheidungssituation. Die städtebauliche Debatte verlief zwischen rekonstruktiver Sehnsucht bis zur Konfrontation und behutsamem, dialogischen Stadtumbau.

Bereits im Sommer 1990 waren die Ergebnisse der Planungsgruppe Potsdam mit der Proklamation des Siedlungssterns auch als künftiges Raumentwicklungsmodell ein Meilenstein für die künftige regionale Einbindung der Stadt. Frühzeitig stellte die Stadtpolitik die Weichen für den Erhalt und die Ertüchtigung sowohl der innenstadtnahen Altbaugebiete als auch der Großsiedlungen aus der Nachkriegszeit im Ostteil der Stadt. Der Wohnungsnot sollte mit einem großen Neubauprogramm begegnet werden, für das grüne Vorstädte als Leitidee dienten. Mitte der 90er Jahre folgte dem ersten Metropolenrausch die finanzielle und wirtschaftliche Ernüchterung. Politische Turbulenzen um den Bankenskandal kulminierten 2001 im für die ehemalige Frontstadt unerhörten Wahlsieg von Rot-Rot. Neue Planungen und Projekte waren in der Phase der Stagnation und Konsolidierung nicht gefragt und auch nicht finanzierbar. Der in den 2010er Jahren einsetzende neuerliche Boom der Stadt war dementsprechend unzureichend planerisch vorbereitet und begleitet. Mit dem Regierungsantritt von Rot-Rot-Grün 2016 war der Anspruch verbunden, verlorene Zeit aufzuholen, Planungen zu aktualisieren und die Transformation voranzutreiben. Gemeinsam mit der in Berlin traditionell sehr agilen Zivilgesellschaft. Es ist mehr als ein Bonmot, dass es heute in der kapitalistischen Metropole Berlin mit dem siegreichen Volksentscheid „Deutsche Wohnen und Co. Enteignen“ um die Vergesellschaftung großer Immobilienkonzerne geht. Diese haben das Wesen der Stadt mehr verändert als jede Planung.

IV

Herausragende städtebauliche Symbole diktatorischer Herrschaft heute

Italiens Umgang mit dem faschistischen Erbe: eine Entwicklungsgeschichte

Daniela Spiegel
Hochschule Anhalt, Dessau/Bauhaus-Institut

Während der elfjährigen Regierungszeit (1922-1943) des faschistischen Regimes wurden in Italien zahllose Bauprojekte verwirklicht. Das umfangreiche architektonische Erbe reicht von einzelnen Denkmälern über öffentliche Bauten bis hin zu tiefgreifenden urbanistischen Eingriffen wie die Umgestaltung von Platzanlagen, die Anlage neuer Stadtviertel und Wohnsiedlungen und sogar die Neuschaffung ganzer Städte. Nahezu keine Stadt blieb unberührt von den städtebaulichen Maßnahmen der Mussolini-Zeit. Somit ist Italiens Erbe des Faschismus allein durch die schiere Masse des Gebauten eigentlich omnipräsent, aber dennoch bleiben viele innerstädtische Maßnahmen nahezu unsichtbar, da sie städtebaulich und architektonisch differenziert in den Bestand implementiert wurden.

Heute werden die architektonischen Hinterlassenschaften des Faschismus im Allgemeinen als selbstverständlicher Teil der italienischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhundert akzeptiert und hoch geschätzt. Die innerstädtischen Stadtquartiere der Regimezeit mit ihren großzügigen Wohnungen und Grünanlagen sind überaus beliebt, eindrucksvolle Repräsentationsbauten wie der Palazzo della Civiltà Romana im ehemaligen Weltausstellungsgelände EUR werden als Ikonen der Moderne gefeiert, ohne dass der Entstehungskontext der Gebäude als Problem wahrgenommen oder gar thematisiert wird. Auseinandersetzungen gibt es nur (aber auch nicht immer) bei Fragen des Umgangs mit entfernten oder noch vorhandenem faschistischem Bauschmuck.

Der Vortrag versucht, Italiens besonderen, vielen unreflektiert erscheinenden Umgang mit dem Erbe der Diktatur zu deuten, indem ein genauerer Blick auf dessen historische Entwicklung seit dem Ende des Faschismus geworfen wird, sowohl auf der theoretischen Rezeptionsebene als auch auf der Ebene des praktischen Umgangs.

Valle de los Caídos in Spanien: Bau, Nutzung und Deutung einer gigantischen Hinterlassenschaft der Franco-Diktatur, 1939-2021

Piero Sassi
Bauhaus-Universität Weimar

Der kontroverse Umgang mit dem städtebaulichen Erbe der europäischen Diktaturen wurde in den letzten Jahren immer präsenter. Nicht nur in der Fachdebatte, sondern auch – und vor allem – in der politischen Auseinandersetzung, auf lokaler sowie auf nationaler Ebene. Nutzung und Deutung von Anlagen, die der persönlichen Erinnerung an die Diktatoren dienen, bilden heute ein aktuelles Thema in verschiedenen Regionen Europas. In Spanien verdeutlichte in den letzten Jahren die lebhafte Diskussion um die Zukunft des Valle de los Caídos tiefgreifende Konflikte um die Aufarbeitung der diktatorischen Vergangenheit.

Der Monumento Nacional de Santa Cruz del Valle de los Caídos (Nationaldenkmal des Heiligen Kreuzes im Tal der Gefallenen), im Volksmund Valle de los Caídos (Tal der Gefallenen), ist eine monumentale, im Berggebiet der Sierra de Guadarrama angesiedelte Kultstätte. Entworfen und angelegt wurde sie unter der Diktatur des Generalissimus Franco, zwischen 1940 und 1959, als Bestandteil jener Erinnerungslandschaft um die Hauptstadt Madrid, die den Triumph der Putschisten im Bürgerkrieg (1936-1939) hätte symbolisieren sollen. Nach dem Tod von Francisco Franco, der 1975 hier begraben wurde, und dem Übergang zur Demokratie entwickelte sich das Tal der Gefallenen zu einem Pilgerort für Nostalgiker der Diktatur. Erst 44 Jahre später, im Herbst 2019, schaffte die umstrittene Umbettung des Sarges des Diktators die Voraussetzungen für eine Umdeutung der Gedenkstätte.

Dieser Beitrag setzt sich mit Bau, Nutzung und Deutung des Valle de los Caídos unter den wechselnden gesellschaftspolitischen Verhältnissen auseinander. Von der Entstehung des Projektes, kurz nach dem Spanischen Bürgerkrieg, über den Bau während der ersten Phase der Diktatur bis hin zu der zeitgenössischen Debatte um den Umgang mit dieser gigantischen Hinterlassenschaft des Franquismus.

Nürnberg: Das Reichsparteitagsgelände im Wandel der europäischen Erinnerungskultur

Florian Dierl
Leiter des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände, Nürnberg

Das ehemalige Reichsparteitagsgelände in Nürnberg bildet das größte erhaltene Ensemble nationalsozialistischer Staats- und Parteibauten in der Bundesrepublik Deutschland. Die unter der Leitung von Albert Speer zwischen 1933 und 1939 entstandene, allerdings nur zu einem geringen Teil fertiggestellte Anlage repräsentierte den Anspruch des NS-Regimes auf eine umfassende Neuordnung der deutschen Gesellschaft wie auch die Absicht, einen mythischen Mittelpunkt des künftigen Großdeutschen Reichs im Sinne einer „Tempelstadt der Bewegung“ zu definieren.

Im Umgang mit der Hinterlassenschaft des „Dritten Reichs“ durch die US-amerikanische Besatzungsmacht und die Stadt Nürnberg nach 1945 spiegeln sich die unterschiedlichen Konjunkturen der bundesdeutschen Vergangenheitsaufarbeitung wie auch die durchaus widersprüchlichen Versuche einer gesellschaftlichen Selbststabilisierung mit Hilfe städtebaulicher Konzepte. Die gegenwärtigen Diskussionen um Erhalt, Verfall oder kulturbezogene Intensivnutzung der noch vorhandenen NS-Bauten zeigen, dass der Prozess der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung im Sinne eines gemeinsam geteilten Verständnisses von Erinnerungskultur nicht abgeschlossen ist.

Der Beitrag zeichnet exemplarisch verschiedene Stadien der Auseinandersetzung mit dem Gelände nach und untersucht, inwiefern das Areal – jenseits der vom NS-Regime geschaffenen Ikonographie – als Bezugsgegenstand eines transnationalen Erinnerungsdiskurses verstanden werden kann. Erkenntnisleitend ist hierbei die These, dass die „Zweite Geschichte“ des Reichsparteitagsgeländes ab 1945 für die Einordnung in einen europäischen Rahmen der Erinnerungskultur(en) aussagekräftiger ist als dessen zeitgenössische Funktion als Beispiel faschistischer Repräsentationsarchitektur.