
Singer erforscht, wie natürliche Gehirne funktionieren. Dabei stellt sich die Frage, ob Computersysteme nach den gleichen Prinzipien arbeiten und was wir aus diesem Vergleich für die Entwicklung Künstlicher Intelligenter Systeme (KI) lernen können. Als Beispiele dienen sogenannte Deep Neural Networks (DNNs) und Large Language Models (LLMs): DNNs sind künstliche neuronale Netze mit vielen Schichten, die komplexe Aufgaben erfüllen. Beispiele sind die Bilderkennung oder das Lösen kombinatorischer Probleme wie das Spielen von Schach oder Go. LLMs wie ChatGPT sind eine besondere Form solcher Netze, die auf Basis riesiger Textmengen trainiert wurden, um Sprache zu »verstehen« und Schlussfolgerungen zu ziehen.
Singers Forschung legt nahe, dass sich künstliche und natürliche Systeme grundsätzlich anderer Prinzipien bedienen, um ihre Leistungen zu erbringen. Künstliche Systeme arbeiten mit digitalen Signalen und verarbeiten Information seriell in streng hierarchischen Architekturen. Natürliche Systeme verwenden analoge Signale, die in stark vernetzten Architekturen mit flacher Hierarchie parallel verarbeitet werden. Der wichtigste Unterschied ist, dass künstliche Systeme keine Dynamik aufweisen, während die natürlichen ein hochdynamisches Verhalten zeigen. Dazu gehören rhythmische Schwingungen der Aktivität, sogenannte Oszillationen, die sich überlagern und synchronisieren können, oder als wandernde Aktivitätswellen komplexe Interferenzmuster ausbilden. Aus Simulationsstudien, die auf neurobiologischen Erkenntnissen beruhen, schließt Singer, dass diese komplexe Dynamik Grundlage einer extrem effizienten Rechenstrategie ist, die in manchen Aspekten der ähnelt, die auch in Quantencomputern Anwendung findet.
Solche Erkenntnisse könnten langfristig neue, energieeffiziente KI-Systeme ermöglichen, die sich stärker an der Funktionsweise des Gehirns orientieren. Singers interdisziplinärer Ansatz verbindet Neurowissenschaft und Informatik und lädt dazu ein, Kognition und künstliche Intelligenz aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten.
Der Vortrag findet öffentlich statt.
Oszillationen, Wellen und Interferenzen. Die Lingua Franca der Großhirnrinde. Über die wesentliche Rolle der Dynamik im Unterschied zwischen Gehirnen und Computern.
Sonic Talk von Wolf Singer (Ernst Strüngmann Institute (ESI) for Neuroscience, Frankfurt)
Zeit:
Dienstag, 27. Mai 2025, 19 Uhr
Ort:
Hauptgebäude der Bauhaus-Universität Weimar
Oberlichtsaal
Geschwister-Scholl-Straße 8
99423 Weimar
»Sonic Talks« ist eine neue Veranstaltungsreihe der Professuren »Experimentelles Radio« und »Akustische Ökologien und Sound Studies« an der Bauhaus-Universität Weimar. Sie knüpfen an an die Themen des Semesters. Im Sommersemester 2025 beschäftigen sich die »Sonic Talks« mit Rhythmus, Klang und Heilung.
Über Wolf Singer
Wolf Singer ist ein weltweit renommierter deutscher Neurowissenschaftler, dessen Arbeiten unser Verständnis des Gehirns, insbesondere seiner Informationsverarbeitung wesentlich geprägt haben. Nach seinem Medizinstudium in München und Paris forschte Singer im Bereich der Neurophysiologie. 1981 wurde er zum Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt a.M. berufen. 2004 gründete Singer das Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS), das sich unter anderem mit der theoretischen Bearbeitung neurobiologischer Fragen befasst. 2008 gründete Singer schließlich das Ernst Strüngmann Institute (ESI) for Neuroscience in Kooperation mit der Max-Planck-Gesellschaft, das der Erforschung höherer Hirnleistungen gewidmet ist. Seit 2011 ist er emeritiert und leitet weiterhin eine Arbeitsgruppe als Senior Fellow am ESI. Einer seiner einflussreichsten Forschungsbeiträge ist die Theorie der zeitlichen Bindung, die besagt, dass synchronisierte neuronale Schwingungen verschiedene Teile des Gehirns in die Lage versetzen, räumlich und zeitlich getrennte Inhalte zu kohärenten Wahrnehmungen zu verarbeiten. Dabei nutzt das Gehirn nicht nur die räumliche, sondern auch die zeitliche Dimension für seine Berechnungen. Singers Arbeit bildet eine Brücke zwischen Informatik und Neurowissenschaften. Sie stellt die klassische Vorstellung von linearer Informationsverarbeitung in Frage. Ob sich daraus Bezüge zu bestimmten Konzepten in der Kunst ergeben, wird die Diskussion zeigen.
Für Rückfragen steht Ihnen gern Romy Weinhold, Mitarbeiterin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit an der Fakultät Kunst und Gestaltung, telefonisch unter +49 / 36 43 / 58 11 86 oder per E-Mail an romy.weinhold@uni-weimar.de zur Verfügung.