Einrichtungsantrag

Ausschnitte aus dem Einrichtungsantrag für ein DFG-Graduiertenkolleg „Identität und Erbe“ GRK 2227

Eingereicht am 13.11.2015; genehmigt von der DFG am 20.5.2016
Förderperiode: 01.10.2016–31.03.2021

 

1.1.1    Antragstellende Hochschulen

Technische Universität Berlin, Straße des 17. Juni 135, 10623 Berlin (federführend).
Bauhaus-Universität Weimar, Geschwister-Scholl-Straße 8, 99421 Weimar.

 

1.1.2    Weitere beteiligte Hochschulen

Universität der Künste Berlin
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Technische Universität Dortmund
Fachhochschule Erfurt

 

1.1.3    Außeruniversitäre Kooperationspartner

Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg
Stiftung Preußischer Kulturbesitz
Klassik Stiftung Weimar
Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora
Landesdenkmalamt Berlin
Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologisches Landesmuseum
Thüringisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie

 

1.2  Antragstellende Wissenschaftler/innen

Technische Universität Berlin (alphabetische Reihenfolge):

Bürkle, Stefanie, Prof. Dr, Bildende Kunst
Butenschön, Sylvia, Dr.-Ing., Denkmalpflege
Cramer, Johannes, Prof. Dr.-Ing., Baugeschichte und Stadtbaugeschichte
Dolff-Bonekämper, Gabriele, Prof. Dr. phil.(Sprecherin), Denkmalpflege
Frank, Sybille, Prof. Dr. phil., Stadt- und Regionalsoziologie
Löw, Martina, Prof. Dr. phil., Planungs- und Architektursoziologie
Schüler-Springorum, Stefanie, Prof. Dr. phil., Antisemitismus-forschung
Schulz-Brize, Thekla, Prof. Dr.-Ing., Historische Bauforschung - Masterstudium Denkmalpflege
Weidenhaus, Gunter, Dr. phil., Planungs- und Architektursoziologie
Wittmann-Englert, Kerstin, Prof. Dr. phil., Architekturgeschichte

 

Universität der Künste Berlin:

Hauser, Susanne, Prof. Dr. phil., Kunst- und Kulturgeschichte

 

Bauhaus-Universität Weimar (alphabetische Reihenfolge):

Engelberg-Dočkal, Eva von, Dr. phil., Denkmalpflege und Architekturgeschichte
Escherich, Mark, Dr.-Ing., Denkmalpflege und Architekturgeschichte
Langner, Sigrun, Prof. Dr.-Ing. Landschaftsarchitektur und -planung
Lüthy, Michael, Prof. Dr. phil., Geschichte und Theorie der Kunst
Meier, Hans-Rudolf, Prof. Dr. phil.(stellvertr. Sprecher), Denkmalpflege und
Architekturgeschichte
Schönig, Barbara, Prof. Dr.-Ing., Stadtplanung
Siegert, Bernhard, Prof. Dr. phil. Geschichte und Theorie der Kulturtechniken, Medienphilosophie
Spiegel, Daniela, Dr.-Ing., Denkmalpflege und Architekturgeschichte
Weizman, Ines, Prof. Dr. phil. Architekturtheorie
Welch Guerra, Max, Prof. Dr. phil., Raumplanung und Raumforschung

 

1.3  Assoziierte Wissenschaftler/innen:

Buttlar, Adrian von, Prof. Dr. phil. (i. R.), TU Berlin, Architekturgeschichte
Gianighian, Giorgio, Prof. (i.R.), IUAV Venedig,  Progettazione e Pianificazione in Ambienti Complessi
Roskamm, Nikolai, Prof. Dr. phil., FH Erfurt, Planungstheorie
Vinken, Gerhard, Prof. Dr. phil., Uni Bamberg, Denkmalpflege/ Heritage Sciences
Welzel, Barbara, Prof., Dr. phil, TU Dortmund, Kunstgeschichte

 

1.3.1    Zusammenfassung

In gegenwärtigen Werte- und Orientierungsdebatten, die neue kulturelle und politische Fundamente für den Zusammenhalt von Gesellschaften legen sollen, wird auf ein Konzept rekurriert, das im Prozess der Nationenbildung zu beobachten war und ist: die Konstruktion kollektiver Identität(en) durch die behauptete Einheit von Staat, Geschichte, Volk, Kultur und Erbe. Unsere These ist, dass die Konzepte von Identität und Erbe interdependent sind, und sie weder auf stabile Bedeutungen und Beziehungen verweisen, noch solche dauerhaft erzeugen. Unsichere Beziehungen und Ambiguitäten sind charakteristisch für das konfliktdurchzogene Feld der Identifikation und Aneignung von Kulturerbe im Zusammenhang mit der Konstituierung von Gemeinschaften.

Als eine gemeinsame Einrichtung der Technischen Universität Berlin und der Bauhaus-Universität Weimar leitet das Graduiertenkolleg „Identität und Erbe“ zur kritischen Erforschung von Identitäts- und Erbe-Konstruktionen an, die auf Bauwerken, historischen Orten und anderen, hauptsächlich  dinglichen, kulturellen Überlieferungen gründen. Im Zentrum stehen der Zusammenhang zwischen dem Affirmationsbedarf von Gemeinwesen und der Aneignung von Kulturerbe, das für Geschichts- und Identitätspolitiken mobilisiert wird, und die kritische Historisierung des Gesamtkonzeptes von Kulturerbe-basierten Identitätskonstruktionen; dies schließt die  Beschäftigung mit neueren Ansätzen zu ihrer Überwindung oder Transformation in supranationalen Konstellationen ein.

Das Kolleg, getragen von Wissenschaftler/innen der Denkmalpflege, Bau- und Stadtbaugeschichte, Architekturtheorie, Architektur- und Kunstgeschichte, Kultur- und Medienwissenschaft, Bildenden Kunst, Landschaftsarchitektur und -planung, Stadtplanung, Raumplanung, Raumforschung, Stadt- und Regionalsoziologie sowie Planungs- und Architektursoziologie, verknüpft ansonsten parallel verlaufende disziplinäre Diskurse und will, ausgehend von der Analyse der Grundlagen, ein Modell für eine interdisziplinäre kritische Kulturerbe-Forschung und, darauf aufbauend, eine Kulturerbe-Theorie entwickeln, die den Ansatz einer partizipatorischen und demokratischen Erbe-Interpretation mit der Feinbeobachtung und Deutung der materiellen Beschaffenheit der Gegenstände verbindet. Zentral für unseren Ansatz ist es, die zu erforschenden Objekte einerseits als Medien von gestaltbaren und in Raum, Zeit und Gesellschaft beweglichen Bindungen zwischen Erben und Geerbtem zu begreifen, und andererseits ihren historischen Sinngebungen nahe zu bleiben, um die gegenwärtigen Aushandlungsprozesse zu Interpretation und Wert des Erbes nicht von der materiellen und historischen Grundlage zu lösen.

 

1.3.2    Abstract

Contemporary debates about social values and orientation, aiming to provide new cultural and political foundations for the coherence of societies, usually recur to a concept which was and still is to be found in processes of nation building: the constitution of collective identities through an assumed unity of state, history, people, culture and heritage. We aim to argue that the concepts of identity and heritage are interdependent, and that their relations and meanings are neither stable nor permanent. Rather, in the context of community building, uncertain relationships and ambiguities are characteristic of the conflict-permeated fields of identification and appropriation of cultural heritage.

In a collaborative endeavor between the Technical University Berlin and the Bauhaus-University Weimar, the Research Training Group “Identity and Heritage” will conduct critical research about processes of social appropriation and interpretation as they relate to buildings, artifacts, historical sites, and other material elements of cultural tradition. Of primary interest is the relationship between the need for affirmation of the collective, and the appropriation of cultural heritage as it is mobilized both within the politics of history and identity as well as within a critical historization of the overall concept of identity construction as based in cultural heritage. This comprises research on new attempts to overcome existing identity concepts and their transformation within supranational constellations.

The involved scholars are from disciplines such as historic preservation, building and urban design history, architectural theory, architectural and art history, cultural and media studies, visual arts, landscape architecture and planning, urban planning, spatial planning and spatial research, city and regional sociology, planning and architectural sociology. They will link discourses which so far merely run parallel. As such, the group aims to develop a model for interdisciplinary critical cultural heritage studies and, on this basis, a cultural heritage theory that combines participatory and democratic heritage interpretation with the detailed observation and interpretation of the material qualities of objects. It is central to our approach to understand the objects of our research as being able to mediate through space and time between society, heirs and heritage. On the other hand it is necessary to maintain their historical semantic ascriptions without detaching current considerations about the interpretation and value of cultural heritage from their material and historical origin.

 

2     Profil des Kollegs

Wer heute besonders wirksam für die Erhaltung und Würdigung eines Denkmals eintreten will, beschwört den Zusammenhang von Erbe-Erhaltung und Identitätskräftigung. Damit gewinnt ein Konzept neue Aktualität, auf das seit 200 Jahren im Prozess der Nationenbildung zurückgegriffen wird: die Konstruktion kollektiver Identität(en) durch die behauptete Einheit von Staat, Geschichte, Volk, Kultur und kulturellem Erbe. In der vom politischen Alltagsdiskurs geprägten Öffentlichkeit werden dabei die grundsätzlich prekären Konzepte hinter der eingängigen Begrifflichkeit kaum reflektiert. Identität und Erbe sind zwar interdependent, verweisen aber beide nicht auf stabile Sachverhalte und Bedeutungen. Das wird insbesondere beim schillernden Begriff der Identität deutlich, der in der Wissenschaft von verschiedener Seite kritisiert wird. Dagegen ist das Konzept des Erbes, trotz seiner offensichtlichen Konjunktur in der internationalen Heritage-Debatte, insbesondere in der zuständigen Kerndisziplin Denkmalpflege, noch wenig theoretisch durchdrungen.

Zentral für das Graduiertenkolleg ist es, den Objekten und ihren historischen Sinngebungen nahe zu bleiben, um die jeweils gegenwärtigen Aushandlungsprozesse zu Interpretation und Wert des Erbes nicht von der materiellen und historischen Grundlage zu lösen. Denn die formale und materielle Beschaffenheit und Überlieferung von vorgefundenen Bauwerken, Artefakten und von urbanen und landschaftlichen Räumen sowie deren soziale Interpretation und Wertschätzung als Kulturerbe, können nicht getrennt voneinander verhandelt werden. Die Kompetenz, das Material und die Form zu „lesen“ und zu deuten und die Fähigkeit, historische Sinnsetzungen und gesellschaftlich vermittelte Wertschätzungen kritisch zu durchdenken und auch sie auf ihre Gemachtheit hin zu untersuchen, sollen im Kolleg zusammenkommen.

Die besondere Herausforderung, der wir uns im Kolleg stellen wollen, besteht darin, die Grenzen zwischen den verschiedenen disziplinären Theorietraditionen und Denkweisen sowie den Sach-, Methoden- und Medienkompetenzen der beteiligten Fächer nicht zu verwischen, sondern sie im Gegenteil stets erkennbar zu lassen. Das Qualifizierungskonzept nutzt dazu die beiden Standorte des Kollegs, die reichlich Reflexionsmaterial für ein Forschungskolleg bieten, das wesentlich orts-, objekt- und raumbezogen ist – repräsentieren doch Berlin und Weimar in geradezu paradigmatischer Weise mit ihrem baukulturellen Erbe "Glanz und Elend" deutscher Geschichte und Kultur der vergangenen 250 Jahre.

Den Doktorand/innen, die wir in das Kolleg aufnehmen, wollen wir einen verlässlichen, im besten Sinne robusten, theoretischen und methodischen Rahmen bieten, der zugleich den disziplinären und kulturellen Differenzen Raum lässt, die sie mit ihrer akademischen Herkunft, ihren Themenstellungen und Untersuchungen einbringen. Die Kollegiat/innen sollen ermuntert und dazu angeleitet werden, aus dem jeweils eigenen Feld benachbarte Gegenstände, Größenordnungen, Erfassungs- und Bewertungsparameter, Betrachtungsabstände und Methoden zu berühren und zu nutzen. Dabei werden sie stets durch die jeweils andere Kompetenz der Vertreter/innen der Nachbardisziplinen abgesichert.

Einbezogen als Kooperationspartner/innen sind die in ihrer Bedeutung singulären, an beiden Standorten beheimateten Stiftungen der jeweils auch mit identitären Konzepten verbundenen Erbepflege (Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg; Stiftung Preußischer Kulturbesitz; Klassik Stiftung Weimar; Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora) sowie die Denkmalämter der Bundesländer Berlin, Brandenburg und Thüringen.

(...)

 

3     Forschungsprogramm

Forschungsidee und Leitthema

Die formale und materielle Beschaffenheit und Überlieferung von vorgefundenen Bauwerken, Artefakten, von urbanen und landschaftlichen Räumen sowie deren soziale Interpretation und Wertschätzung als Kulturerbe können nicht getrennt voneinander verhandelt werden. Die Kompetenz, das Material und die Form sachkundig zu erfassen und zu deuten und die Fähigkeit, historische Sinnsetzungen und gesellschaftlich vermittelte Wertschätzungen kritisch zu durchdenken und auch sie auf ihre Gemachtheit hin zu untersuchen, müssen zusammenkommen. Die programmatischen Begriffe Identität und Erbe verweisen auf komplexe, in mehreren Fachdisziplinen verhandelte Beziehungsgeflechte zwischen Sachen und Sachen sowie zwischen Sachen und Personen. Über alle denkbaren Verschiedenheiten der jeweiligen disziplinären Begriffskonnotation hinweg weist – und trifft – das Wort Identität selbst noch in seiner Ablehnung stets auf das Innerste, das Eigentliche, persönlich Wichtiggenommene eines Individuums, das Einheitsstiftende, Stabilitätverheißende einer Gruppe oder auf die wesentliche Eigenart einer Sache oder eines Ortes. Der Begriff Erbe lässt an Kontinuität und Vermögensbewahrung denken und zielt im Besonderen auf die Weitergabe materieller und kultureller Werte sowie sozialer Standards in der Gesellschaft. Erbe zu sein ist indes keine dauerhafte Eigenschaft, sondern zeitgebundenes Ergebnis sozialer Zuschreibungen, Interpretationen und Inwertsetzungen, also eine soziale Konstruktion, die in der Regel von Konflikten geprägt ist und ihrerseits jederzeit bestritten und revidiert werden kann. Auch ist zu berücksichtigen, dass (Kultur-)Erbe unserem Verständnis nach zwar Baudenkmale umfasst, aber zugleich über sie hinaus weist und sich ebenso auf Sammlungen von Artefakten und Kunstwerken, Bodendenkmäler, Landschaften, Stadträume sowie kulturelle Praktiken bezieht. Ausdrücklich schließen wir untergegangenes und absichtsvoll zerstörtes, geraubtes oder verkauftes Erbe in die Betrachtung ein. Mit der Kombination der beiden Worte Identität und Erbe verknüpfen wir zwei Begriffsfelder, die unverrückbaren Bestimmungen letztlich ebenso widerstehen wie disziplinärer Einhegung. Ob und wie am Ende wessen Identität durch welches Kulturerbe gestützt wird und welches Kulturerbe durch diese Verknüpfung erhalten werden kann, muss sich im Einzelfall erweisen. Solche Einzelfälle sollen im Kolleg zusammengeführt und in einem Modell gedacht werden, in dem die wechselseitige Stabilisierung von Identität und Kulturerbe reflektiert und historisiert wird. Im Zuge dieser Arbeiten können sich andere Begriffskonstellationen auftun, unsere Kernbegriffe Identität und Erbe könnten auch entkoppelt und sollen ihrerseits kritisch historisiert werden.

Das Forschungsprogramm ist in die gegenwärtigen Diskurse über Kulturerbe eingebettet. Jüngere Konzepte und Manifeste der internationalen Organisationen, die sich mit Kulturerbe befassen, stellen bereits die immer wieder behauptete Einheit von Kulturerbe, Ethnizität und Kulturalität in Frage und schlagen andere soziale Muster der Vergesellschaftung von Kulturerbe vor (vgl. etwa die Europaratskonvention von Faro zur sozialen Bedeutung des Kulturerbes von 2005, an deren Entstehung die Sprecherin beteiligt war). Dadurch eröffnet sich ein auf Gegenwart und Zukunft gerichtetes Forschungsfeld, in dem gefragt wird, welche Bedeutung Denkmale und Kulturgüter für die Aufdeckung und mögliche Bearbeitung von sozialen und kulturellen Konflikten der Vergangenheit haben können und wie die Befassung mit Kulturerbe der Moderation von Konflikten der Gegenwart(en) dienen könnte. Der Ansatz des Graduiertenkollegs lässt sich schließlich im Kontext einer breit angelegten und aktuellen Debatte in den Gesellschafts-, Kultur- und Geisteswissenschaften verorten, in der – von unterschiedlichen Startpunkten aus – ebenfalls die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Objekten und den Subjekten, zwischen den Dingen und den Diskursen, zwischen den Materialitäten und den Handlungen gestellt wird. So steht in den Kulturwissenschaften, in der Neuen Kulturgeographie, in der Wissens- und Raumsoziologie, in den Gender Studies oder auch in unterschiedlichen Ansätzen der Politischen Theorie immer wieder die Frage im Mittelpunkt, wie konstruiert das Materielle/Dingliche und wie materiell das Konstruierte ist, ob der dichotome Gegensatz zwischen dem Geistigen und dem Nicht-Geistigen aufrecht zu halten und fruchtbar zu machen ist und/oder wie alternativ dazu ‚gemischte Zustände’ konzeptualisiert werden können. Das Graduiertenkolleg Identität und Erbe stellt solche Fragen aus einer Denktradition heraus, in der die Annäherung an das Objekt und seine Konstruiertheit, an seine historische Bedingtheit, seine soziale Wirkung und seinen Kontext (vgl. Mahr 2013), immer im Kern der Auseinandersetzungen gestanden hat und weiterhin steht.

(...)

 

Arbeitsfelder und mögliche Dissertationsthemen:

Aus dem Leitthema „Identität und Erbe“ lassen sich, unter Berücksichtigung der beteiligten Disziplinen und Qualifikationen, folgende fachübergreifende und untereinander verknüpfte Themenfelder bestimmen:

 

(a) Kulturerbe und Stabilitätsversprechen: Das Stabilitäts- und Kontinuitätsversprechen der Leitbegriffe Identität und Erbe ist mit jenen Wissensbeständen verbunden, die seit dem 19. Jahrhundert Prozesse der Vererbung, der Traditionsbewahrung, der Überlieferung und des Nachlebens von statischen auf dynamische Grundlagen umstellen. Aus diesen Verbindungen ergeben sich begriffs- und konzeptgeschichtliche sowie diskurs- und ideologiekritische Fragestellungen. Andere Forschungsfragen zielen auf das Verhältnis von Erbe- und Archivkonzepten im Vergangenheitsbezug der Künste, auf den historischen Wandel von Erbe- und Erbschaftskonzepten oder auf die Konstruktionen und Dekonstruktionen kollektiver Identitäts-, Konflikt und Geschichtsräume. Dies lässt sich zum Beispiel an der auf Systemwechsel folgenden Neuordnung und Neupräsentation von Sammlungen in historischen Museen verdeutlichen.

Mögliche Dissertationsthemen: Erbe, Tradition, Diffusion, Evolution: Übertragungskonzepte der Lebens- und Kulturwissenschaften | Überschreiben: Das Verhältnis von Erbe- und Archivkonzepten im Vergangenheitsbezug der Künste | Künstlerische Konzeptionen des Monumentalen und Erinnerungsdiskurse | Die Rolle von Erbe-, Identitäts- und Selektionskonzepten für die Entstehung nachhistoristischer Geschichtsmodelle | Transnationale Erbekonstruktionen als Friedensmissionen zwischen vormals verfeindeten Staaten | Aneignungen – Ausgrenzungen: Der Umgang mit den Relikten der zerstörten jüdischen Kultur in Ost- und Westdeutschland | Konstruktion und Instrumentierung multireligiöser Utopien (z. B. Vermarktung von Sefarad-Al Andalus in Toledo, Granada und Córdoba) | Das historische Erbe als juridische Frage. Urheberrecht und Schutzmechanismen von Architektur | Konstruktionen regionaler kollektiver Identitätsträume durch Betonung landschaftlicher Zusammenhänge und deren medialer/kartografischer (Re)präsentationen.

 

(b) Partizipation und Erbe: Das Problem der Deutungshoheit: Wenn klassische nationalstaatliche Verfahren der Sinnsetzung an Bedeutung verlieren, verändern sich Funktion und Gewicht des institutionalisierten wie des ungebundenen denkmalpflegerischen Expertenwissens. Welche Modelle der sozialen Partizipation lassen sich in der Denkmalpflege einsetzen und wie kann dabei auf Erfahrungen von Planungstheorie und Planungspraxis zurückgegriffen werden? Die Europaratskonvention von Faro (2005) öffnet sowohl den sozialen als auch den lokalen Rahmen der Erbekonstruktion; das bedeutet, dass jede/r Erbe sein kann, der/die sich als solcher erklärt. Wie kann dies in der Praxis funktionieren? Wer soll hier die Deutungshoheit halten? Insbesondere, wenn es um bauliche Zeugnisse diktatorischer Regime geht, die nicht zufällig als ‚unbequeme Denkmale’ bezeichnet werden, stellt sich die Frage, wie ein Wechsel der Deutungshoheit zu denken ist und wie Umdeutungs- und Neu-Aneignungsprozesse organisiert werden können. Gerade radikale politische Umbrüche zeigen, dass auch mit dem Entzug des Erhaltungskonsenses zu rechnen ist. Im Kontext der sozialen Denkmalkonstruktion sind mithin auch die Grenzen sowohl der Partizipation als auch der Expert/innenkompetenz auszuloten.

Mögliche Dissertationsthemen: Das Recht auf Erbe im Zeitalter globaler Migrationen | Wem gehört die Welt? Weltkulturerbe und die Teilnahme lokaler Bevölkerungen | Ereignisakkumulationen und Selektionen – Historische Ereignisse in lokalen Erinnerungspolitiken | Kulturelles und juristisches Urheberrecht an performativen kulturellen Praktiken der sogenannten Volkskulturen | Wessen Erbe ist die ‚Europäische Stadt’? | Jüdisches Erbe ohne Juden – lokale Aneignungen von ‚jüdischer Geschichte’ | Raubkunst und ihre Restitution im Spannungsfeld von rechtlichem und kulturellem Besitzanspruch | Dynamische Kulturlandschaften zwischen (imaginärer) Raumvorstellung und (lebenspraktischem) Handlungsraum | Zivilgesellschaftliche Akteure in der Denkmalpflege.

 

(c) Identität, Erbe-Verlust, Zerstörung: Denkmalverlust bedeutet nicht automatisch Erbe-Verlust, ein Denkmal kann nach seinem materiellen Untergang immer noch Erbe sein und der Verlust kann selber zum Erbe werden, das dann weiterhin gemeinschaftsstiftend wirkt. Die Geschichte des Judentums nach der zweiten Tempelzerstörung ist dafür das klassische Beispiel, dem, mit jeweils unterschiedlichen Spezifika, die großen Vertreibungs- und Fluchtbewegungen des 20. Jahrhunderts zur Seite zu stellen sind. Diasporische Gemeinschaften werden vom Verlust der Heimat zusammengehalten, nicht obwohl, sondern gerade weil sie unerreichbar ist. Wir fragen: Wie wird Verlust erlebt, vererbt und geerbt? Wissentliche und willentliche Zerstörung von Kulturerbe, wie wir sie gerade durch die IS dramatisch erleben, ist seit jeher Teil von Kriegshandlungen und Teil von religiös, kulturell oder politisch motivierten Hegemonialgefechten aller Art. Wer sind die Adressat/innen der Zerstörungshandlung? Erschüttert sie tatsächlich die Grundfesten des sozialen Zusammenhaltes der ihres Erbes Beraubten oder dient sie der Bekräftigung der Identität der Zerstörer? Können Grundmuster der Entwertung und Zerstörung von Kulturerbe herausgearbeitet werden?

Mögliche Dissertationsthemen: Heimatverlust, Heimatanspruch: Zugehörigkeit zu neu eroberten/besetzten/vertraglich zugeteiltem Territorium | Topografische Überschreibungen und Auslassungen in der Folge von Vertreibung | Erbe ohne Erben – die Übernahme oder Zurückweisung von verwaistem Kulturerbe durch neu angesiedelte Bevölkerungen | Lücken und Leerstellen als Erinnerungsorte – eine Herausforderung für die Stadtplanung | Verlustdokumentationen. Zur (Re-)Konstruktion des Verlorenen im Bilddiskurs der Nachkriegszeiten | Die strategische Bedeutung von Kulturerbe-Zerstörung in kriegerischen Auseinandersetzungen | Verlustkompensation und Neuorientierung durch Denkmäler-Setzungen | Das zentrale Holocaust-Mahnmal in Berlin als Affirmation der ‚Erbschuld‘ und Monumentalisierung des ‚Verschwindens‘ | Stadtplanung und Stadtzerstörung: Zur Rezeption moderner Stadtplanung in der Nachmoderne.

 

(d) Identität von Orten – Rekonstruktion: Wer von der ‚Identität’ eines Ortes spricht, um damit das eigentlich Wesentliche zu erfassen, nimmt eine Eigenartszuweisung vor. Solche Zuweisungen sind regelmäßig Grundlagen für Entwurfsvorschläge oder den Versuch, ein ‚örtliches Erbe’ weiterzuentwickeln. Eigenartzuweisungen mit wechselnden Referenzrahmen sind zeit- und kontextgebunden. Mal wird der Stadtgrundriss („genetischer Code“), mal die Silhouette oder die Traufhöhe (‚Raumgerüst’) aufgerufen, mal die Morphologie, die Bautypologie, die Wahrzeichen oder, allgemeiner gefasst, der sogenannte Genius Loci und seine Atmosphäre. Gänzlich verschiedene Strategien im Umgang mit dem Ort, die gleichermaßen mit dem Verweis auf die Stadtidentität legitimiert werden, werden als Folge unterschiedlicher Eigenartszuweisungen begreifbar und als Optionen des Handelns und des Entwerfens erklär- und erforschbar. Bauliche Rekonstruktionen sind eine Form des zeitgenössischen Bauens, in der sich gesellschaftliche Wünsche und Vorstellungen, die einen Vergangenheitsbezug haben, materialisieren. Diese sind als solche ernst zu nehmen und zu untersuchen, gerade weil heutzutage die Option Rekonstruktion als Konkurrenz zum denkmalpflegerischen Erhaltungsparadigma aufgebaut und insbesondere als identitätskräftigend beworben und umworben wird. Hier kommt komplizierend hinzu, dass auch Rekonstruktionen untergegangener Baudenkmale – etwa die Wiederaufbauten der Städte nach dem 2. Weltkrieg – historisch werden und ihrerseits zum Kulturerbe zu rechnen sind.

Mögliche Dissertationsthemen: Praktiken der Orientierung und Bedeutungszuweisung beim Entwerfen | Kartografie als performative Praktik des Verstehens von Landschaften | Städtebauliche Denkmalpflege und Stadterneuerung/Das Konzept der „kritischen Rekonstruktion“ | Suburbanes Erbe – suburbane Identitäten: Morphologien des Stadtrands im europäischen Vergleich | Der Genius Loci und das Großereignis: Strategien zur Inszenierung städtischen Erbes/Die Rekonstruktion von Baudenkmalen als Medium bürgerschaftlicher Identitätssuche/Die ruinierte Stadt als Mahnmal | Historisierendes Bauen als Erbekonstruktion | Konsequenzen der groß angelegten baukulturellen Digitalisierungsprojekte.

 

(e) Ökonomisierung, Site-Management, neue Akteurskonstellationen: Das Verhältnis von Identität und Erbe ist geprägt von den Zielkonflikten unterschiedlicher Akteursgruppen. Während öffentliche politisch-administrative Institutionen geschichtspolitische Programme verfolgen und zugleich hauptverantwortlich für das Finden und Umsetzen von gewünschten Nutzungen sind, treten zunehmend professionell agierende Unternehmen mit elaborierten Produkten auf. Im Zuge der Globalisierung, Medialisierung und Ökonomisierung von Erbe ist eine ‚Erbe-Industrie‘ entstanden. Um Deutungshoheiten, finanzielle Zuweisungen und Profite konkurrieren heute unterschiedliche öffentliche und private Akteur/innen, deren Anzahl und Einfluss in dem Maße gestiegen sind, wie sich der Staat oder die Kommunen aus der öffentlichen Geschichtspflege zurückgezogen haben. Vergangenheitsbetrachtungen wurden diversifiziert und mit einer globalisierten Freizeit-, Medien-und Tourismusindustrie verknüpft. Das gilt auch für archäologische Stätten innerhalb und außerhalb Europas. Hier bestehen Forderungen nach ‚Site-Management’-Plänen, die auch die touristische Erschließung des bearbeiteten Geländes noch vor und vor allem nach dem Ende der Grabung vorsehen. Was bislang weitgehend fehlt, sind verbindliche Modelle, Standards und Verfahren zu Beteiligung der örtlich ansässigen Bevölkerung. Zu fragen ist daher: Wie verändert sich Kulturerbe, wenn es nicht mehr (nur) von der öffentlichen Hand und zivilgesellschaftlichen Gruppen konstruiert, sondern auch von kommerziellen Anbieter/ innen produziert wird? Ist damit die Verknüpfung von Erbe und Identitätskonstruktionen aufgelöst oder beliebig? Welche Chancen und Risiken birgt eine zunehmend marktförmige Organisation von Angebot und Nachfrage? Wie wirkt diese Ökonomisierung auf die internationalen Standards der Präsentation zurück? Welche Rolle spielt die mediengestützte (internationale) Nachfrage von Tourist/innen, die die zunehmende Verbilligung und internationale Zugänglichkeit von Reiseangeboten dazu nutzen, Kulturerbederivate in immer größerer Zahl vor Ort zu konsumieren oder sogar die Kulturerbestätten selber zu beschädigen? Wie beeinflusst dies die lokale Identifikation?

Mögliche Dissertationsthemen: Die Rolle privater Anbieter/innen bei der Vermarktung von Identität und Erbe | Kosmopolitische Neuverortungen des ‚Lokalen‘/‚Nationalen‘ in Auseinandersetzung mit internationalen ‚Standards‘ der Erbe-Präsentation | Auswirkungen der Präsenz neuer nachfragender Gruppen vor Ort und Fragen des ‚Heritage Management‘ und der Interkulturalität | Schwieriges Erbe und ‚Dark Tourism’ | Mediale Erbekonstruktionen und ihre Auswirkungen auf Identitäten | Fragen von Kontrolle, Macht und Möglichkeiten der Regulation von Erbe in Zeiten der Globalisierung, Medialisierung und Ökonomisierung von Identität und Erbe | Semantische Untersuchungen ‚globalisierter Artefakte‘: Welche Werte repräsentieren sie für wen und warum? | Zum Zusammenhang von archäologischer Stätte, Landschafts-und Siedlungsraum | Der soziale Wirkungsraum von Fundstücken | Das Zusammenwirken von lokalen Eliten, auswärtigen Experten, kommunalen Verwaltungen und UNESCO bei bewohnten Welterbestätten in Städten | Ungewollte Erbestätten: Wie stehen Bevölkerungen oder auch Staaten zu einem Erbe, das sie kulturell gar nicht als identitätsstiftend ansehen (etwa griechisches Erbe in der Türkei).

(...)

 

 4.1     Ausschreibungs- und Auswahlverfahren

 

4.1.1    Einstellungsvoraussetzungen

Die formalen Zugangsvoraussetzungen für das Graduiertenkolleg orientieren sich an den aktuellen Promotionsordnungen der Fakultäten der Antragsteller/innen.

 

4.1.2    Auswahlkriterien

Die Promovend/innen verfügen über einen qualifizierten universitären Master- oder Diplomabschluss mit überdurchschnittlichem Ergebnis, vorzugsweise mit Schwerpunkt in einem der vertretenen Fachgebiete (Denkmalpflege, Kunstgeschichte, Geschichte, Architektur, Stadtplanung, Baugeschichte/Bauforschung, Planungswissenschaften, Sozialwissenschaften). Sie sind neugierig, interessieren sich für denkmalpflegerische Fragestellungen, scheuen sich nicht vor theoretischen Diskussionen, haben aber zugleich einen Hang zur Auseinandersetzung mit materiellen Dingen bzw. räumlichen Konfigurationen. Sie haben in ihrem bisherigen Werdegang gezeigt, dass sie außergewöhnlich leistungsbereit und leistungsfähig sind. Wissenschaft ist für sie auch eine Leidenschaft, was sich möglichst auch dadurch äußert, dass sie bereits (z.B. als studentische Hilfskraft) an Forschungsprojekten beteiligt waren und schon Erfahrungen mit wissenschaftlichen Arbeiten vorweisen können. Die Promotion ist für sie eine logische Folge der bisherigen beruflichen Laufbahn, die auch mit klaren Vorstellungen der weiteren Entwicklung verbunden ist. Das Interesse an dem im Graduiertenkolleg behandelten Leitthema äußert sich in einem darauf ausgerichteten Forschungsvorhaben, das durch eine Projektskizze nachgewiesen wird, in der auf fünf bis maximal zehn Seiten das Dissertationsthema inkl. einer kurzen Darstellung des Forschungsstandes und der vorgesehenen Methodik dargelegt wird. Die Bereitschaft zu interdisziplinärer Zusammenarbeit sowie das Interesse an den im Kolleg vertretenen Fächern werden vorausgesetzt. Die Lehrveranstaltungen des Kollegs werden zum vorwiegenden Teil in deutscher Sprache gehalten. Angemessene deutsche Sprachkenntnisse (GeRS Niveau B2) müssen deshalb vorhanden sein. Für internationale Promovierende stehen zusätzlich Mittel für Deutschkurse zur Verfügung; sie können überdies damit rechnen, im persönlichen Gespräch mit Betreuern auch in Französisch, Italienisch und/oder Spanisch verstanden zu werden. Englisch als internationale Wissenschaftssprache wird vorausgesetzt.

(...)

 

4.1.3    Auswahlverfahren

Die Bewerbungsunterlagen sind per Email einzureichen. Die von der DFG finanzierten Stellen für Doktorand/innen und Postdoktorand/innen werden nach den genannten Auswahlkriterien in einem zweistufigen Verfahren vergeben. Darüber hinaus können in das Graduiertenkolleg weitere Kollegiat/innen mit anderen Finanzierungen aufgenommen werden, die aber inhaltlich den gleichen Anforderungen zu genügen haben. Die Leitung des Kollegs wird den für geeignet erachteten Kandidat/innen, die für eine Stelle im Graduiertenkolleg nicht berücksichtigt werden konnten, bei der Antragsstellung für Stipendien behilflich sein.

Bewerbungsunterlagen für die Doktorand/innenstellen:

·       Motivationsschreiben, Curriculum Vitae

·       Hochschulzeugnis(se), relevante Arbeitszeugnisse

·       Empfehlungsschreiben einer Hochschullehrerin/eines Hochschullehrers

·       Exposé/Skizze des Dissertationsvorhabens

Die endgültige Auswahl der Bewerber/innen erfolgt durch ein Auswahlgespräch mit einer Kommission aus Vertreter/innen der Antragstellenden (inkl. Nachwuchswissenschaftler/innen) aus beiden Standorten und in Absprache mit der Graduierungskommission der zuständigen Fakultät. Maßgebliche Auswahlkriterien für die Aufnahme ins Kolleg sind die thematische Ausrichtung der bisherigen Qualifikation, ein überdurchschnittlicher qualifizierter Studienabschluss, ein großes Interesse an interdisziplinärer Zusammenarbeit sowie die thematische Einpassung des Dissertationsvorhabens in das Kolleg. Es wird angestrebt, die Hauptfragestellungen des Kollegs möglichst in ihrer ganzen Breite erforschen zu lassen.

– Bitte bewerben Sie sich erst, nachdem die offizielle Ausschreibung veröffentlicht ist! –