IKKM Lectures: Eva Geulen (Bonn)
Lebend Ding bei Goethe
Mittwoch, 27. Januar, 19 Uhr in der Cranachstraße 47
Mit der Vorstellung vom Organismus scheiden die Lebewesen im 18. Jahrhundert aus den taxonomischen Ordnungen der Dinge aus und rufen neue Betrachtungs- und Untersuchungsweisen hervor. In diesem Prozeß, den Lepenies als »das Ende der Naturgeschichte« bezeichnete, nehmen Goethes Bemühungen um Morphologie als allgemeine Formenlehre eine seltsame Zwischenstellung ein. Während die Forschung lange glaubte, vormoderne Motive von modernen Aspekten trennen zu können, soll hier in zwei Hinsichten eine pointiert moderne Lesart erprobt werden. Zum einen kann man nämlich der medial und formal höchst eigenwilligen Form, die Goethe seiner Lehre von Bildung und Umbildung in den »Heften zur Morphologie« (1817-1824) gegeben hat, vor dem Hintergrund jüngerer Theoretiker (Rheinberger, Haraway, Latour) sehr aktuelle wissenschaftstheoretische Einsichten zur Bedeutung von Ensembles für die Konstitution von Gegenständen abgewinnen. Andererseits jedoch haben Goethes Überlegungen ein besonderes Problem: Was Gegenstand der Morphologie sein soll, kann ihr Gegenstand nicht sein, denn Gegenstand der Morphologie ist, was sich wandelt, sich bildet und umbildet. Wie verfährt man mit einem wandelnden Ding, einem Ding im oder beim Übergang? Goethes diesbezügliche Antworten – zu denen auch eine dem Betrachter abgeforderte »Bildsamkeit« gehört – werden gezielt auf ihr aktuelles Anregungspotential hin gelesen und behutsam mit philosophischen Positionen im 20. Jahrhundert abgeglichen, in der Absicht dem Klischee vom holistischen Goethe etwas entgegenzusetzen.