Workshopreihe 2018/2019

1968: Wohnungsfrage – Bericht zum Workshop am 3. + 4. Mai 2018

Vor 50 Jahren – im Jahr 1968 – kulminierten weltweit zahlreiche politische Bewegungen in eine Hochphase des Protests gegen den Vietnamkrieg, gegen die Ausbeutung am Arbeitsplatz, gegen die Diskriminierung von Frauen und ethnischen Gruppen, gegen autoritäre Erziehungs- und Lehrformen und ganz allgemein gegen den normierenden Staat. Zum Jubiläum haben wir uns die Frage gestellt, ob und in welcher Weise in dieser Phase des Aufbruchs die Wohnungsfrage in Deutschland eine Rolle gespielt hat.

In den 1960er Jahren gerät der fordistische Urbanismus in eine Krise. Die nach dem Zweiten Weltkrieg in der BRD eingeführten starren Regulierungen des Wohnungsbestandes werden nach und nach aufgehoben, was Miet- und Bodenpreise in die Höhe schnellen lässt. Der Neubau von Sozialwohnungen, in der Wohnungsmarktwirtschaft ein lukratives Verwertungsmodell für private Investoren, kommt im Laufe der 1960er Jahre an seine Wachstumsgrenzen, da keine hinreichend wohlhabenden Haushalte mehr zur Verfügung stehen, die in den komfortableren, aber auch teureren Neubau einziehen könnten. Als neues Verwertungsmodell wird die Kahlschlagsanierung von innerstädtischen Wohnvierteln nach und nach eingeführt. Diese Entwicklungen der Bestands- und Neubaupolitik führen auch im Bereich des Wohnens zu zahlreichen Verwerfungen und Konflikten. Sie öffnen das Feld für eine grundsätzliche Debatte der Wohnungsfrage, wie die sechs Referent/innen des Workshops in verschiedenen Bereichen darstellten.

In einem Abendvortrag stellte Harald Bodenschatz die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Forum Stadt zum Thema "1968. Stadt – Wohnen – Politik" vor und berichtete von seinen persönlichen Erfahrungen in jener Zeit, von der Entwicklung weg von der Kahlschlagsanierung hin zur behutsamen Stadterneuerung und vom Einfluss, den die 68er auf diesen Umschwung hatten, die sich auf den Marsch durch die Institutionen begaben.

Am nächsten Tag stellte Maren Harnack die Kritik am Massenwohnungsbau dar – und eine aus heutiger Sicht zu formulierende Kritik an dieser Kritik. So konstatierte sie zunächst, dass man der Wohnungsnot der Nachkriegszeit nur durch den standardisierten Bau einer Vielzahl an Wohnungen Herr werden konnte. Zudem steigerten die Neubauten den Wohnkomfort drastisch. Die sozialpsychologische Kritik der 68er am angeblich "lebensfeindlichen Massenwohnungsbau" spiegele laut Harnack das Bedürfnis eines bestimmten Milieus nach Selbstverwirklichung wider.

Felicitas Reuschling beschrieb im Anschluss, in welche konkreten sozialen Wohnutopien diese Bedürfnisse gegossen wurden. In experimentellen, gemeinschaftlichen Wohnformen wurde dem Ideal der Kleinfamilie eine konkrete Utopie der Kollektivität und der Gleichberechtigung entgegengesetzt, so zumindest der Wunsch. Interessante Überschneidungen zeigte Reuschling, indem sie sowohl selbstorganisierte Jugendwohnprojekte beleuchtete, die aus der Kritik am Heimsystem entstanden waren, als auch eher mittelschichtsgetragene Kommune-Projekte.

Lisa Vollmer stellte in ihrem Beitrag die Entwicklung von Mieter/innenprotesten im Laufe der 1970er Jahre dar. Dabei verfolgte sie die These, dass sich bis zur Mitte der 1970er Jahre eine Klassenallianz zwischen Mittelschicht und Arbeiter_innen beobachten ließ, die sich allerdings in Folge gezielter Spaltungsstrategien und aus der eigenen Praxis der Bewegung heraus auflöste. Diese Spaltung öffnete neoliberalen Wohnungspolitiken wie dem Abbau des Sozialwohnungsbestands und der Regulierung von Miethöhen Tür und Tor.

Nina Gribat beleuchtete die Revolten, die sich an den Architekturfakultäten der BRD gegen autokratisch geführte Lehrstühle und die Entpolitisierung der Architektur vollzogen. Die Studierenden und Mittelbauvertreter/innen setzten Reformen in Lehre und Arbeitspraxis durch, die die politökonomische Analyse an den Anfang stellen, die ihr eigenes Tun als politisch begreifen und die die Bewohner/innen von Stadtteilen als – zumindest theoretische – Auftraggebende anerkennen.

Schließlich zeichnete Sebastian Haumann den planungskulturellen Wandel weg von einer Top Down- und hin zu einer Bottom Up-Planung anhand von Entwicklungen in Köln und Philadelphia nach. Dabei stellte er sich die Frage, wie groß der Einfluss von Protestbewegungen auf diesen Wandel tatsächlich war – oder inwiefern er nicht vielmehr mit einem generellen Wertewandel verbunden war, der eine Erweiterung der politischen Partizipation forderte und eine Pluralisierung und Individualisierung von Wohnpräferenzen beinhaltete.

In der Zusammenschau ergab sich ein komplexes Bild einer Phase der deutschen Geschichte, in der viele Wege offen standen und wenig vorgezeichnet schien. In der Rückschau gilt es diese Phase in ihrer Ambivalenz zu betrachten und zu würdigen.

Bericht: Lisa Vollmer