SS 06 S Beobachten und Unterscheiden

Seminar: Beobachten und Unterscheiden [SS 06]

Blockseminar
Medienphilosophie

Prof. Dr. Niels Werber

Ein Buch über Charles S. Peirce der amerikanischen Semiotiker Thomas A. Seboeck und Jean Umiker-Seboek handelt zu großen Teilen von Sherlock Holmes, dem berühmten Detektiv der Romane Sir Arthur Canon Doyles. Holmes wird von ihnen vor allem als begnadeter Beobachter von Details gewürdigt, er hat alle drei „Gaben“ des Detektivs: „Beobachtung“, „Deduktion“ und „Kenntnisse“. Dann wird eine Demonstration dieser Gaben aus Im Zeichen der Vier zitiert. Daß Holmes sich vor seiner beeindruckenden Show eine Injektion siebenprozentiger Kokainlösung injiziert hat, lassen die Semiotiker unter den Tisch fallen, dabei ist diese Droge für Holmes Verbindung von Konzentration einerseits und Aufmerksamkeit für kleinste Details anderseits entscheidend. Was beobachten die Seboecks nicht, wenn sie Holmes bei der Beobachtung beobachten?
Sherlock Holmes jedenfalls nimmt die feinsten Unterschiede wahr, und Doyle geht offenbar von der These aus, daß es Unterschiede in der Welt gibt – und man nur genau genug hinsehen muß, um sie zu beobachten und zu beschreiben. Dies wäre das erste Paradigma unserer Annäherung an den Zusammenhang von Beobachtung und Unterscheidung.

1. Sitzung: Die Realität beobachten. Spurensicherung 5. / 6. Mai

  • Arthur Conan Doyle, The Sign of Four (1890), London 1995.
  • Thomas A. Seboek, Jean Umiker-Seboek, "Du kennst meine Methode". Charles S. Peirce und Sherlock Holmes (1980), Frankfurt am Main 1982.
  • Carlo Ginzburg, Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst (1983), Berlin 1995.

Systemtheoretische und konstruktivistische Ansätze gehen dagegen davon aus, daß die Unterscheidung das, was beobachtet wird, erst hervorbringt. Hier werden in jüngster Zeit vor allem zwei Autoren immer wieder zitiert, George Spencer Brown und Fritz Heider. Niklas Luhmann und Dirk Baecker haben diese Theorien der Beobachtung und Unterscheidung umfassend gewürdigt und weiterentwickelt. In der zweiten Sitzung werden wir uns diesem Paradigma der Konstruktion der Realität durch Unterscheidungen nähern und zentrale Überlegungen der Systemtheorie zu Beobachtung und Selbstbeobachtung, Medium und Form und zur Beobachtung zweiter Ordnung nachvollziehen.

2. Sitzung: Beobachtung als Unterscheidung 2. / 3. Juni

  • Fritz Heider, Ding und Medium (1926), Berlin 2005.
  • George Spencer Brown, Laws of Form, London 2 1971.
  • Niklas Luhmann, "Das Medium der Kunst", in: DELFIN, Heft VII (1986): S. 6-15.
  • Niklas Luhmann, Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992.
  • Dirk Baecker, Form und Formen der Kommunikation, Frankfurt am Main 2005.

Welche Konsequenzen diese Theorien haben und was Beobachten als unterscheidende Operation bedeuteten kann, soll mit verschiedenen Annäherungen exemplarisch erkundet werden. Ich möchte für die dritte Blockveranstaltung vier Anwendungsfälle vorschlagen:

3. Sitzung: Anwendungen 23. / 24. Juni

  • 1 Politik: Unterscheidung, Dezision, Gegenbegriffe
    • Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (1931), Berlin 1991.
  • 2 Sexualität: Sades „wesentliche Differenz“, Individualität, Normalität und Abweichung
    • Marquis de Sade, Die 120 Tage von Sodom, Reprint Dortmund 1987.
  • 3 Mode: Beobachtungen der Oberflächen. Distinktion durch Unterscheidung.
    • Charles Baudelaire, "Der Dandy" (1860), in: Werke und Briefe in acht Bänden, Bd. 5, hrsg. von Friedhelm Kemp, Frankfurt am Main 1989, S. 241-245.
    • Charles Baudelaire, "Der Künstler, Mann von Welt, Mann der Menge und Kind" (1863), in: Werke und Briefe in acht Bänden, Bd. 5, hrsg. von Friedhelm Kemp, Frankfurt am Main 1989, S. 217-225.
    • Bret Easton Ellis, American Psycho, London 1991.
  • 4 Gesellschaft: Funktionale Ausdifferenzierung als Unterscheidung von Unterscheidungen
    • Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (1984), Frankfurt am Main 1987.
    • Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997.

Die vorbereitende Lektüre der Texte für die ersten beiden Sitzungen ist obligatorisch. „Experten“ können für die erste und zweite Sitzung je einen Text oder eine Position eigens vorbereiten, also sich genauer informieren, um Kontextwissen etc. in das Plenum einzuspeisen. Hier ist nicht an Referate gedacht, sondern an gut vorbereitete Diskussionsbeiträge und weiterführenden Hinweise. Die Themen der dritten Blockveranstaltung werden von Arbeitsgruppen erschlossen, vorbereitet und dem Plenum präsentiert. Für den Erwerb von Creditpunkten ist es notwendig, sich für eine der beiden Beitragsformen zu entscheiden. Sie können sich mit dem Betreff „Beobachtung“ per email bei mir anmelden (niels.werber@rub.de) und Themenwünsche („Expertenthemen“, „Themen für Arbeitsgruppen“) mit mir absprechen.

Zeit:
5./6.5.2006
2./3.6.2006
23./24.6.2006

Richtet sich an:
EMK, MK/MA