»Catching Trains, Chasing Home« by Jing Regina Augusto-Wüthrich

(Eine Hetzjagd nach dem Zuhause)

Eine außergewöhnliche Beobachtung von Deutschen aus der Sicht einer, die mit ihnen zusammen leben und letztlich eine von ihnen werden muss – und das für den Rest ihres Lebens. Eine persönliche Geschichte, die von Anpassung und Schwierigkeiten einer Eingebürgerten handelt, die sich mit dem Konzept einem neuen Zuhause und dem der Freizügigkeit anvertrauen musste.

»Ich habe mein Leben damit verbracht Zügen im Wettlauf gegen die Zeit hinterher zu jagen, aber die Reise brachte mich nie dorthin wonach ich mich eigentlich sehnte: Zuhause!« Aber wie definiert man Zuhause? Ist es der Ort an dem sich die physischen Lebensnotwendigkeiten befinden, wie zum Beispiel ein Dach (über dem Kopf), ein Bett, eine Küche, oder ein Wohnzimmer? Oder ist es das Gefühl einer Kultur, in die wir hineingeboren wurden, anzugehören? Oder ist es so abstrakt wie das Gefühl von Zufriedenheit, Hoffnung, aber auch der Aufregung für immer an einem neuen Ort zu leben? Oder all das zusammen…?

Die Fernreise

(Siebzehn Stunden in ein neues Zuhause)

Nach einem 14-stündigen Flug von den Philippinen nach Deutschland, den ich hauptsächlich mit Schlafen verbrachte, wurde ich von den Applaus meiner Co-Passagiere erschüttert. Zuerst dachte ich, dass jemand einen lebensbedrohlichen Notfall während des Fluges hatte und aus der Gefahr herausgekommen war, daher der Jubel. Das war nicht der Fall! Das Flugzeug war gerade erst am Frankfurter Flughafen gelandet.

Von der Landebahn aus sah alles vertraut aus, außer dem düsteren Novemberwetter und den Fehlenden Slums. Der Unterschied wurde deutlich, als ich aus dem Flugzeug trat. Die Luft war frisch, frischer, als ich je zuvor geatmet hatte. Der Smog ist das erste, was ich immer nach dem Aussteigen des Flugzeugs in Manila rieche.

Die größte Überraschung war jedoch der Flughafen. Geräumig, sauber und gepflegt. Die Philippinen haben vielleicht die Ehre, 7.107 schöne Inseln bei Ebbe und 7.106 in Flut zu haben, aber auf der Grundlage von Umfragen vor ein paar Jahren war der Ninoy Aquino International Airport (NAIA) einer der schlechtesten Flughäfen der Welt.

Der Frankfurter Flughafen war so riesig, musste ich  jemand nach dem Weg zu Bahnsteigen für Fernverkehrszüge fragen. Mit nur 10 Minuten rannte ich im rekordbrechenden Hundertmeterlauf meines Lebens vom Terminal 2 zum Frankfurter Fernbahnhof. Immerhin wollte ich für meine erste längere Zugfahrt nicht zu spät kommen.

Steig ein!

Die Durchsage schallte »Willkommen bei der Deutschen Bahn.« Ich hatte geschafft.

Der Innenraum des Zuges war ordentlich und auch vergleichbar mit Flugzeug Kabine für Inlandsflüge in den Philippinen. Der Zug war nicht überfüllt. Die Leute waren ruhig, einige schliefen. Diese zweistündige Zugfahrt vom Flughafen nach Erfurt entführte mich auf viele Vergleich zwischen Philippinisches und Deutsches Transportsystem.

Ich konnte mich an einige Kindheitsgeschichten über die rostigen philippinischen Eisenbahnen erinnern. Die Züge stammten aus der Nachkriegszeit mit einigen Sanierungen in den 60er und 70er Jahren. Der Dienst hatte sich nach Jahrzehnten verschlechtert, dass Zugreisen so unbeliebt für Pendler geworden ist. Leute sagten, dass die einzigen Passagiere, die regelmäßig von der Provinz zur Hauptstadt reisten, waren Hühner (tot und lebendig) und Gemüse. Meisten Teile der Zugstrecke waren auch bevölkert. Menschen bauten ihre behelfsmäßigen Häuser 1 Meter entfernt von beiden Seiten der Schienen.

Anderseits was Der Blick auf das Fenster des ICE wie ein HD-Fernsehapparat, der den deutschen Herbsthintergrund zeigt. Es war November 2003, und diese zusätzliche Aussicht war so idyllisch dass sogar die Lautsprecherdurchsage »In Kürze erreichen wir Erfurt«, poetisch erschien.

Trautes Heim, Glück allein # 15
(Die Ankunft am neuen Ziel)

»Während ich an meinem Ziel ankam, stürzten sich viele Leute bereits in ihr nächstes.« Dieser Fluss an Menschen hinterließ einen Eindruck bei mir, weil ich mich nicht, wie befürchtet, isoliert oder weit weg fühlte. Es war die Bestätigung sich frei bewegen zu können; wann, warum, oder wohin auch immer. Und dies wurde mein erste überlebensgroße Postkartenerinnerung von Deutschland.

Als ich am Fuße der Erfurter Hauptbahnhofstreppe ankam, fühlte ich mich wie ein kleines Kindergartenkind, das sich am Tag der Kurseinschreibung aufs Universitätsgelände verwirrte. Ein jeder lief so schnell; die Art des Ganges war hektisch, energisch und dennoch genauestens kalkuliert und flüchtig wie die Zeit. Und auch wenn es nicht einschüchternd war, so war es dennoch eigenartig. Ich verspürte den Drang mit ihnen mitzuhalten, mich ihrem Rhythmus anzupassen, natürlich ohne ihnen dabei in die Quere zu kommen, denn ich fürchtete sie aus der Bahn zu werfen. In meinem Land haben die Menschen einen sehr entspannten Gang, was den unbeschwerten Lebensstil unserer Kultur widerspiegelt. 

Während es beinahe schon eine ewige Notwendigkeit für Deutsche ist schnell zu laufen, ja förmlich zu rennen, so viel mir auf, dass jene, die nicht so sehr in Eile zu sein schienen an den rechten Rand des Gehweges gedrängt wurden. Nämlich vorwiegend alte Menschen, die vermutlich weit über ihren Ruhestand hinaus waren, und mit gebückter Haltung ihre Rollatoren vor sich hinschoben, oder mit ihren Krücken kämpften, und sich dennoch nicht davon abhalten ließen ihr nächstes Ziel zu erreichen.

In dem Land aus dem ich komme ziehen es ältere Menschen vor sich in die Ecken ihrer Häuser zu verziehen und sich von ihrer Familie verhätscheln zu lassen. Was wiederum sehr nachvollziehbar ist in Anbetracht dessen, dass mit 12 Millionen Einwohnern, in der Hauptstadt allein, zu viel Trubel herrscht. Es gibt einige Mutige, die zur Rush Hour ihr Haus verlassen, da die Bahn in Manila ein gesondertes Abteil für ältere Menschen bereitstellt. Alle anderen Wagons sind zum Bersten voll. Man stelle sich jeden einzelnen Wagen wie kleine Sardinien vor, in die sich 300 Menschen, oder mehr, quetschen. "In meinem Land alt zu werden ist vergleichsweise ein Privileg, während das Altern hier in Deutschland nicht nur ein Privileg ist, sondern vor allem eine Einstellung! Da die Infrastruktur hier so unglaublich gut ausgebaut ist wird es älteren Menschen ermöglicht sich frei zu bewegen und auf Wanderschaft zu gehen.  

Das lokale Gefühl

(Sich der neuen Umgebung anpassen)

Der Charme von Zugfahrten und Bahnsteigen hat sich im Laufe der Jahre nicht sonderlich verändert. Neben Frankfurt, war Erfurt der erste Ort auf den ich Fuß setzte und meine daher entwickelte Zuneigung zu dessen Hauptbahnhof verwandelte sich schon schnell in eine Obsession. Aus gelegentlichen Rendezvous wurden häufige Besuche des Bahnhofs und dessen nahegelegenen Shops und Restaurants. Der Drang meine Zeit dort zu verbringen rührte allerdings daher, dass ich Freude darin fand Leute zu beobachten, die sich ihrer Ankunft oder Abreise erfreuten.

Während der kalten Wintermonate konnte man hier im gemütlichen Ambiente einer Bar zum ausgelassenen Gelächter deutscher Männer, die an Bierflaschen hingen, genießen, und dabei die schnelllebige Kultur vor winterlicher Kulisse bestaunen.  Die Gesichter der Menschen können während des trostlosen Winters schon einmal düster erscheinen. Aber sie ändern sich mit den Jahreszeiten. Der Hauptbahnhof ist zum Beispiel im Sommer voller Menschen, während Schutzdächer und Sonnenschirme wie Pilze aus dem Boden sprießen.

Es herrscht dann eine spürbare Gelassenheit. Und der Ausdruck in ihren Gesichtern? Aufgeweckt und selbstbewusst, stets bereit abzureisen, oder sich über eine erneute Ankunft zu erfreuen, oder einfach um von der Erfurter Sonne geküsst zu werden. Wie in meiner ehemaligen Heimat sind alle Menschen mit freundlichen Gesichtern geschmückt, natürlich mit einigen Ausnahmen.

Neben den Läufern, gibt es auch eine Vielzahl an Menschen, die ihr Fahrrad benutzen. Auf den Philippinen haben wir kaum Radwege, weswegen die Nutzung eines Fahrrades im Verkehr immer mit einem bestimmten Risiko einhergeht. Des Weiteren dienen Schirme bei uns als Sonnenschutz, während sie bei Deutschen als Regenschirme fungieren. Ich erinnere mich noch immer peinlich berührt daran, eines Tages im Sommer mit einem Schirm an oberkörperfreien Männern, die mich mit verdutztem Blick von oben bis unten musterten, vorbeigelaufen zu sein. Damals dachte ich noch für einen kurzen Augenblick, dass sie mich für meine exotische Schönheit bewunderten, bis ich bemerkte, dass die Kombination von mir und Regenschirm nicht wirklich zum deutschen Sommer passte. Da war es aber bereits schon zu spät. Heute allerdings weiß ich einen anlehnenden Blick von Wertschätzung zu unterscheiden.

Becoming it!

(Wie man zur Deutschen wird)

Es gibt so viele Dinge, die man sich aneignet ohne sich darüber bewusst sein. Noch bevor ich von meiner früheren Nationalität abließ, um offiziell Deutsche zu werden, habe ich mich nicht nur an die Hektik des täglichen Lebens gewöhnt, sondern mir außerdem den überaus geschätzten Wert der Pünktlichkeit angeeignet. Es ist sicherlich unnötig zu erwähnen, dass wenn man sich auf einen Bahnsteig begibt und dort den Durchgang blockiert mit zornigen Reaktionen zu rechnen ist; besonders dann, wenn sich der Zug mal wieder um fünf Minuten verspätet, und Verzweiflung schon zum Alltag wird. 

Man sagt Pünktlichkeit, Fleiß und Ordnung lägen den Deutschen in den Genen, aber sie nehmen ihre Freizeitgestaltung durchaus sehr ernst. Harte Arbeit ist bei ihnen zwar hoch angesehen, aber ein halbes Auge ist immer auf die anstehende und wohlverdiente Aussicht auf Urlaub gerichtet. Sei es ein kleiner Wochenendtrip in eine andere Stadt oder Region, oder ein ausgiebiger Aufenthalt in einem anderen Land. Ständig an den Urlaub zu denken wurde den Deutschen übrigens in die Wiege gelegt. Es ist eine Kultur in der man eine starke Verbindung zur Nachbarschaft hat und stetig neue Kulturen kennenlernen möchte.

Zukunft und darüber hinaus


Ein Teil meiner neu erworbenen Identität wünscht sich, dass ich diese neue Kultur nicht nur in vollen Zügen erfahre, sondern auslebe. Der Reiz der Freizügigkeit, sich niederzulassen oder einfach weiterzugehen, bestätigt meine nomadische Natur. Während stetig physischer und mentaler Stillstand Gift für meine Seele sind, ermöglicht mir das tägliche Pendeln als Studentin zwischen Erfurt und Weimar die Monotonie meines Alltags zu durchbrechen. 

Wie klein auch immer diese tägliche Reise erscheinen mag, sie wird mich immer daran erinnern, wie ich Deutschland während meiner ersten langen Zugfahrt so schmeichelnd kennengelernt habe. Und wer weiß wo mich diese Reise eines Tages hinführt.

Neben der Ordnung und ihrer Effizienz werde ich die Züge und Bahnhöfe vermissen, wenn ich mich von Deutschland auswandern muss. Ich sehne mich auf die Freizügigkeit, die diese alten Leute genossen hatten. Deswegen ich mich nicht mehr vorm Altern fürchte.Der Bahnsteig wird immer groß genug sein und die Auswahl der Ziele und Abfahrtszeiten immer facettenreich. Ich werde auch den deutschen Sommer ohne den Regenschirm vermissen, aber im Moment versuche ich mein Bestes zu geben, die anständige Deutsche, die ich geworden bin, zu bleiben, denn heutzutage verstehe ich nicht nur Bahnhof.

Biografie

Wenn ich jemals Deutschland verlassen würde, werde ich die Ordnung und  Pünktlichkeit und vor allem der Streitpunkt Persönlichkeitsrecht vermissen. Während der Aufnahme der Fotografie-Aufgabe, trotz der Absicht, verschwommene Bilder zu nehmen, wurde ich von jemandem mit dieser angelegenheit konfrontiert. Aus dem gleichen Grund habe ich beschlossen, mein Gesicht teilweise im Bild zu decken  

JRAW
studiert Kommunikationswissenschaften an der Universität der Philippinen. Arbeitet sieben Jahren für das philippinische Kinder Bildungsfernsehen. In 2003 zog sie nach Deutschland als Vertreterin des Fernsehens zu einem Kooperationsprojekt zwischen Uni Weimar und das kinderstiftung. Eingeburgert im Jahr 2012 entschied sie sich wieder zu studieren einen Bachelor in Medienkunst und Design an der Bauhaus-Universität Weimar. Sie beendet derzeit ihre Master in Kunst und Design an der gleichen Universität.