Denkmal Werte Dialog – Teilprojekt

Kulturlandschaft als Palimpsest

Begreifen disparater Vergangenheiten

Projektbearbeitung: Dominique Fliegler, M.A., M.Sc.

Problemstellung und Zielsetzung
Als spezifisches Konzept der Moderne ist die Entstehung der Denkmalpflege eng mit der Herausbildung der Nationalstaaten verbunden. Zwar haben die Denkmalwerte v.a. zu Beginn des 20. Jh. eine Neudefinition erfahren, doch noch immer sind die Denkmalpflegen nicht nur institutionell, sondern auch in der Sicht auf die Orte und Objekte der Erinnerung national ausgerichtet. Nicht nur angesichts von Globalisierung, Migrationsströmen und zunehmender Ausdifferenzierung der Gesellschaften vermögen diese Konzepte für die Zukunft nicht mehr zu genügen, schon heute erweisen sie sich als defizitär, wenn es darum geht, die komplexe und widersprüchliche Realität der Erinnerungsorte in jenen Gegenden Europas zu erfassen, die in der jüngeren Vergangenheit wechselnden Herrschaftsräumen angehörten und von unterschiedlichen und z.T. konkurrierenden Bevölkerungsgruppen bewohnt waren: die ehemals deutschen Ostgebiete in Polen, die Siedlungsgebiete der Deutschen in Böhmen und Mähren-Schlesien, das Baltikum, der Balkan, insbesondere die Gebiete Ex-Jugoslawiens.


Widersprüchlich konnotierte bauliche Relikte, Spuren von Zerstörungen und Neubeginn zeugen ebenso von ganz unterschiedlichen Erinnerungen wie unterschiedliche Toponyme und Erzählungen. Mit traditionellen Denkmalbegriffen ist der disparaten Vielfalt nicht nur aufgrund sich widersprechender Sichtweisen auf das öffentliche Erhaltungsinteresse nicht adäquat zu begegnen, sondern auch, weil viele der Spuren und Relikte qualitativ nicht mit Erhaltungsbegründungen traditioneller Denkmalpflege zu erfassen sind. Vieles ist durch zeitbedingten Verfall oder bewusste Eliminierung auch gar nicht mehr in Form von Baulichkeiten bestimmbar, durch landschaftliche und topografische Veränderungen aber noch zu erfahren. Hier bietet sich das Konzept der historischen Kulturlandschaft als Instrument an, gerade weil es „nicht allein die Unterscheidung zwischen kulturell und natürlich, sondern den Wert an sich in Frage stellt.“  Es ist zu überprüfen, welche Erinnerungswerte im Rahmen des komplex und vielschichtig vernetzten Gebildes einer historischen Kulturlandschaft vermittelt werden können, welche Intentionen und Gestaltungsmöglichkeiten mit diesem Vermittlungsprozess einhergehen und welche Rolle dabei Denkmalen und der Denkmalpflege zukommen kann. 
Als Arbeitsmodell soll die philologische Metapher des Palimpsests dienen, des beschriebenen Pergaments, das immer wieder abgeschabt und neu überschrieben wird und dabei Reste dieser früheren Vorgänge teils sichtbar bewahrt. Entscheidend dabei ist, dass es gerade nicht um die Rekonstruktion eines wie auch immer gearteten Ursprungstextes geht, sondern die Pluralität, das Nach- und Nebeneinander von Überschriebenem und Überschreibendem im Fokus steht. Aufgegriffen wird damit ein Ansatz der Kultur- und Literaturwissenschaft, die sich hauptsächlich in der jüngeren intertextuellen Forschung dieses Bildes bedient. Auch mit dem Erinnerungsdiskurs wird an ein Paradigma der Kultur- und Literaturwissenschaften angeknüpft. Bisher wurde in diesen Disziplinen hauptsächlich dem Text als wesentlichem Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses Beachtung geschenkt, für die Denkmalpflege relevante Objekte hingegen handelte man eher in Randbemerkungen ab. Erst in jüngster Zeit hat sich die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann mit der Architektur als Erinnerungsträger beschäftigt und in diesem Kontext die Stadt als dreidimensionales Palimpsest betrachtet. Das hier dargestellte Teilprojekt will materielle Zeugnisse als zentrale Bestandteile des kulturellen und sozialen Gedächtnisses nachdrücklich positionieren und die Rolle der Denkmalpflege als Entscheidungsträger für den Korpus des kulturellen Gedächtnisses ebenso thematisieren wie mit der Palimpsest-Metapher die Spannung zwischen Erhalten und Verändern, Erhaltungswürdigkeit und Erhaltungsfähigkeit, zwischen Erinnern und Vergessen.


Als regionaler Schwerpunkt soll die deutsch-tschechische Erzgebirgslandschaft, die grenzüberschreitende Kulturlandschaft Montanregion Erzgebirge, exemplarisch untersucht werden. Einer weit ins Mittelalter zurückreichenden Bergbaukultur stehen insbesondere auf tschechischer Seite enorme Verwerfungen des 20. Jh. gegenüber: die Vertreibung der Sudetendeutschen, Grenzbefestigungen und „verbotene Zonen“, großflächiger Braunkohle- und Urantagebau, Neubesiedlungen und zuletzt die Desin¬dustrialisierung. Die bis heute ablesbaren Konsequenzen für Mensch und Landschaft sind tiefgreifend und haben das Image des Erzgebirges nachhaltig negativ geprägt. Im Gegensatz zum sächsischen Erzgebirge ist die Herausbildung einer eigenen Identität angesichts des Bevölkerungswechsels nach 1945 noch in den Anfängen begriffen und vermutlich wird sie sich auch zukünftig keiner montanhistorischen Vergangenheit verpflichtet fühlen. Dem reichen kulturellen Gedächtnis des Erzgebirges in Sachsen stehen folglich in Tschechien viele Leerstellen gegenüber. Doch statt sie auszublenden, sollen sie als Chance verstanden werden, sie durch die Beschäftigung mit ihren Wurzeln wieder mit Leben zu füllen. Hier könnte eine Vitalität im Umgang mit dem historischen Erbe entstehen, die sich durch eine neue Qualität auszeichnet.
Das Projekt ist aber nicht auf diese Region eingeschränkt. Sie bildet zwar modellhaft den Ausgangs- und Schwerpunkt der Untersuchung, deren Ansätze aber an zwei weiteren Regionen vergleichend erprobt werden. Gedacht ist an eine nahe liegende Vergleichslandschaft (Lausitz/Schlesien) und an ein ferner liegendes Beispiel (Lothringen/Saarland).


Zum Stand der Forschung
Die Tradition, Denkmale und Landschaft als zusammenhängendes Erbe zu betrachten, reicht zurück bis in die Anfänge der Heimatschutzbewegung im ausgehenden 19. Jh. Einen neuen, hauptsächlich von der Denkmalinventarisation getragenen Aufschwung erfuhren Versuche, Ziele der Denkmalpflege mit Konzepten der Kulturlandschaft zu verknüpfen nach Anfängen in den 1980er Jahren in den 1990er Jahren. Seit 1994 weist auch die UNESCO Kulturlandschaften als Welterbe aus. Die spezielle Eignung des Kulturlandschaftkonzepts zur Erfassung und Vermittlung schwieriger disparater Vergangenheiten wurde allerdings bisher kaum thematisiert. Allzu sehr scheint Landschaft noch mit positiven Konnotationen besetzt, obwohl schon Martin Warnke in seinem Entwurf einer „politischen Landschaft“ folgerte, Landschaft sei „aus der zivilisationskompensierenden in eine zivilisationspotenzierende Symbolrolle gedrängt“ worden.  Allerdings, so unsere These, hat sich damit das „reiche Reservoir an handlungsleitenden Motiven und Erfahrungen“ keineswegs erschöpft. Das zeigen nicht zuletzt Versuche, mittels Kunst und künstlerischer Wahrnehmung verborgene Sinnschichten gerade dort zu entdecken, wo eine oberflächliche Schau nur Störungen der Landschaft wahrnimmt. Auch Lucius Burckhardts „Wege durch die Zeiten“ sind ein Versuch einer neuen Wahrnehmung von Landschaft, die die Erlebbarkeit historischer Spuren und Phänomene bis in die Gegenwart ermöglichen sollte.  Durch die physische Erfahrbarkeit der Raum-Zeit-Koordinaten, durch die von einer langen Tradition geprägten Seherwartungen an Landschaft und an die in sie hinein gesetzten Denkmale sowie durch die Konditionierung des Dualismus von Geschichte als Gemachtem und Natur als Gewordenem erscheint Landschaft als Ort der Vermittlung komplexer (Denkmal-)Werte und ihrer Prozessualität besonders geeignet. Landschaft ist, mit André Corboz, „ein vom Mensch geprägtes Milieu und zugleich (...) ein Ort, zu dem die Menschen eine privilegierte psychische Beziehung unterhalten“,  was sie als Ort der Erfahrbarkeit auch schwieriger Erinnerungen prädestiniert. Dies selbstverständlich im Wissen darum, dass „eine Spur immer auch die Spur eines Spurenlesers“  ist.
Die im Landschaftszusammenhang erstmals 1983 von Corboz aufgegriffene Palimpsest-Metapher hat Thomas De Quincey schon 1845 als Vergleich mit dem Gedächtnis genannt. Breitere Verwendung fand sie dann durch die Strukturalisten und Poststrukturalisten, die das Palimpsest als literarisches Motiv für die Funktion des Schreibens verwenden. Von dort ausgehend, ist das Sprachbild in jüngerer Zeit von verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen aufgegriffen und erprobt worden.


Für die Kenntnis der schwerpunktmäßig untersuchten Region kann sich das Projekt auf eine von der vorgesehenen Bearbeiterin verfasste postgraduale Masterarbeit zur hier verfolgten Thematik stützen. Auch die jüngsten Programme für die Weiterentwicklung des Tourismus in den entsprechenden Bezirken des tschechischen Erzgebirges (2003) thematisieren die problematische Entwicklung des Erzge¬birges nach dem Zweiten Weltkrieg und sehen hierin Gefahren, aber auch Chancen für die Stärkung des Tourismus. Kulturhistorische Defizite ergeben sich aus der zerstörten und vernachlässigten Denkmalsubstanz, zudem wird das Erzgebirge weder von Bewohnern noch Besuchern als Raum mit einem gemeinsamen, wenn auch widersprüchlichen kulturellen Erbe wahrgenommen. Die im Rahmen der Masterarbeit entwickelten Konzepte versuchen, der Kulturlandschaft in ihrer Komplexität gerecht zu werden, das Spektrum der Betrachtungsweisen einer Kulturlandschaft zu erweitern und das Netz ihrer Bezüge dichter und tiefer werden zu lassen.