Die Regelstudienzeit und ihr Konstruktionsfehler

Viele Erstsemester*innen der Jahre 2020 und 2021 starteten ihr Studium nicht im Präsenzraum mit ihren zahlreichen Kommiliton*innen, sondern vor einem schwarzen Bildschirm und in heimischer Stille (wobei „Stille“ natürlich ein relativer Zustand ist, der für Viele nicht herzustellen war im eigenen Heim). Glücklicherweise profitierten Viele davon, dass die Regelstudienzeit per Landesgesetzgebung in dieser Zeit verlängert wurde.

Mit der Vereinheitlichung von Studiensystemen in ganz Europa (der sog. Bolognaprozess) wurden auch Studienzeiten pauschalisiert. Jede konsekutive Studieneinheit, bestehend aus Bachelor und Master darf höchstens zehn Semester Regelstudienzeit veranschlagen. Wie sich diese Semester dann auf den ersten und den zweiten Abschluss verteilen, ist durchaus unterschiedlich, aber überschreiten darf ein konsekutives Studienprogramm die Höchstzahl von zehn Semestern nicht. Anders formuliert: die Regel ist zehn Semester. So sehr die Regelstudienzeit zurecht kritisiert wird, es gibt einen entscheidenden Vorteil für alle Studierenden: Rechtssicherheit. Es ist faktisch unmöglich, einen Studiengang einfach so abzuschaffen, sodass Studierende innerhalb eines Programms keinen Abschluss mehr in ihrer individuell geltenden Regelstudienzeit absolvieren könnten. Studiengänge können nur fristgerecht abgeschafft werden. Das bedeutet, dass wenn jemand jetzt ein Studium mit sechs Semestern Regelstudienzeit beginnt, die Hochschule sicherstellen muss, dass die Person dasselbe Studium auch in dieser Zeit noch abschließen kann. Allerdings gibt es dabei auch einen dramatischen Systemfehler: Die Regelstudienzeit entspricht nicht der realen Studienzeit. In der Regel überziehen fast alle Studierenden ihre Regelstudienzeit um mindestens ein Semester. Laut einer Erhebung des statistischen Bundesamts[1] schlossen 2021 im Schnitt 32% der Absolvent*innen an deutschen Hochschulen ihr Studium in Regelstudienzeit ab. Den Bachelor- oder Masterabschluss schafften in der Regel nur 20,4% der Studierenden 2021 in Regelstudienzeit.[2] Im Schnitt überzogen 43% um bis zu zwei und 25% um drei oder mehr Semester. Diese Zahlen sind nichts Neues und als Abwärtstrend zu bezeichnen. Im Jahr 2011 schlossen noch im Schnitt 38,5% der Absolvent*innen ihr Studium in Regelstudienzeit ab. Sicherlich spielt die Covid-19-Pandemie eine entscheidende Rolle für die aktuelle reale Studienzeit vieler Studierender. Es wäre aber eine verkürzende Analyse, wenn wir nur diese Zahlen miteinander vergleichen würden. Seit 2014 sinkt die Zahl der Absolvent*innen in Regelstudienzeit kontinuierlich. Aber auch 38,5% ist eine erschreckende Zahl. Der Großteil der Studierenden studiert länger als es das Recht für regulär hält: In der Regel studieren wir nicht in Regel. Heißt das nun, dass sich die Studierenden besser anstrengen müssten? Dass wir Studienprogramme studierbarer machen müssten? Manche bestimmt, aber entscheidend ist, dass wir endlich vom Glauben loskommen, dass ein Bachelor in Biologie vergleichbar sei mit einem Bachelor in Philosophie und der dann wiederum vergleichbar mit einem in Freier Kunst. Jeder Fachbereich hat eigene Anforderungen und muss auch eigene Studienzeiten berücksichtigen. Wir müssen endlich die Regelstudienzeit flexibilisieren; nicht nur im Einzelnen. Wir müssen von den zehn Semestern loskommen und den demokratischen Prozessen wieder die Möglichkeit geben, selbst zu entscheiden, welche Studienzeiten sie als Regel festlegen. Am Ende zählt doch nicht, wie lange jemand studiert. Für maximale europaweite Mobilität, denn das soll der Bolognaprozess ja ermöglichen, zählt, was genau studiert wird und wurde. Es ergibt schlichtweg keinen Sinn, eine Regelstudienzeit aufrechtzuerhalten, die in der Realität nur von einem Drittel der Absolvent*innen eingehalten wird. Im Gegenteil: Wir erzeugen damit erstens einen zusätzlichen Druck auf Studierende, die länger für ihr Studium brauchen und suggerieren mit solchen Statistiken einer nichtakademischen Öffentlichkeit zudem den Eindruck von Faulheit, Inkonsequenz und Unfähigkeit.

Bafög, Nebenjob und Regelstudienzeit

Ein weiteres großes Dilemma der Regelstudienzeit ist ihre Kopplung an das BaföG. Studierende, die auf die staatliche Ausbildungshilfe angewiesen sind, werden dadurch strukturell benachteiligt, weil die reale Zeit, die sie eigentlich benötigen würden, um das Studium abzuschließen, nicht der Regelstudienzeit entspricht. Sie müssen sich deshalb teilweise durch viel zu viel Lernstoff in viel zu kurzer Zeit durchbeißen und geraten damit in psychische Grenzsituationen; sie müssen sich massiv überarbeiten, um Erfolg zu haben. Hier sollen aber nicht die BaföG-Empfänger*innen gegen alle anderen Studierenden ausgespielt werden, denn das Problem zeigt sich auch an anderer Stelle. Im Jahr 2016 hat die Sozialerhebung des Deutschen Studierendenwerks ergeben, dass knapp 68% der Studierenden neben der Uni jobben. 59% der erwerbstätigen Studierenden gaben sogar an, dies zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts machen zu müssen.[3] Bei ausländischen Studierenden sieht es nochmal dramatischer aus: Knapp 75% der erwerbstätigen Auslandsstudierenden gaben an, für ihren Lebensunterhalt arbeiten zu müssen. Dabei kommt diese Gruppe im Schnitt auf eine wöchentliche Arbeitszeit von 50,7 Stunden.[4] Neben dem viel zu engen Zeitfenster, in dem ein Vollzeitstudium absolviert werden soll, werden zahlreiche Studierende obendrein also dazu gezwungen, ihre knappe Freizeit damit zuzubringen, sich das Studium mal eben nebenbei zu finanzieren; Arbeiten um Arbeiten gehen zu können sozusagen. Chancengleichheit oder -gerechtigkeit gibt es nicht einmal mehr auf dem Papier.

Das Mobilitätsfenster

Aber der größte Witz ist das sogenannte „Mobilitätsfenster“,[5] das im Sinne einer europäischen Vernetzung jeder Studiengang aufweisen soll, damit die Studierenden die Möglichkeit haben, Auslandserfahrungen zu sammeln. Auf dem Papier klingt das super. In der Realität haben viele Studierende, die nicht einmal in ihrem eigenen Fach- und Studienalltag zurechtkommen, weil die Zeit dafür viel zu knapp bemessen wird, gar nicht die finanziellen, zeitlichen und psychischen Ressourcen, um ins Ausland zu gehen. Trotzdem suggeriert der akademische und außerakademische Arbeitsmarkt, dass Auslandserfahrungen sehr wichtig für den eigenen Lebenslauf seien. Die Idee ist also nicht nur mit viel zu kurzer Regelstudienzeit schnell halbgare Abschlüsse zu produzieren, sondern den Studierenden zusätzlich ein Semester zu „klauen“, damit sie total „lebensverändernde“ Auslandserfahrungen machen. Alle, die sich dem verweigern, weil sie lieber erst einmal ihr eigenes Fach verstehen wollen, sind dann eben selbst schuld. Was bleibt, ist am Ende eine universitäre Kultur, die psychische Probleme und Krankheiten befördert, weil laufend suggeriert wird, dass es doch nicht mehr „regulär“ sei, wenn man mal länger fürs Studieren braucht und es obendrein nicht schafft, Ressourcen für einen Auslandsaufenthalt zu bündeln; seien sie finanziell, psychisch oder physisch.


[1] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Bildungsindikatoren/absolventen-regelstudienzeit-tabelle.html?nn=621104/, zuletzt aufgerufen am 5.4.2023

[2] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/226104/umfrage/hochschulabschluesse-innerhalb-der-regelstudienzeit/, zuletzt aufgerufen am 5.4.2023

[3] https://www.bmbf.de/SharedDocs/Publikationen/de/bmbf/4/31338_21_Sozialerhebung_2016_Zusammenfassung.pdf?__blob=publicationFile&v=3, zuletzt aufgerufen am 5.4.2023

[4] https://www.bmbf.de/SharedDocs/Publikationen/de/bmbf/4/31412_Auslaendische_Studierende_2016.pdf?__blob=publicationFile&v=3, zuletzt aufgerufen am 5.4.2023

[5] https://www.akkreditierungsrat.de/sites/default/files/downloads/2019/Musterrechtsverordnung.pdf, zuletzt aufgerufen am 5.4.2023