„Willkommen bei Medienkultur. Ihre Bestellung bitte.“
„Hallo, ja, also, ich hätte gerne eine Portion Medienwissen mit extra Relevanz und wirtschaftlichen Zukunftsaussichten. Könnten Sie noch Praxis drüberstreuen? Danke.“
„Fahren Sie bitte zum Moodle-Raum 101 und holen Sie sich Ihre PDFs ab. Einen schönen Tag!“

Ich freue mich auf die Zukunft, wirklich. Ein Satz, den ich schon lange nicht mehr gelesen habe. Klar, am Horizont warten unlösbar erscheinende Krisen, aber jetzt, in diesem Moment, freue ich mich auf die Zukunft; zumindest die nahe Zukunft. In der kommenden Woche melde ich meine Bachelorarbeit an und frage mich deshalb, was ich aus Medienkultur mitnehmen werde. Ich könnte jetzt von Theorien und Texten schwärmen, die mich nachhaltig beeindruckten, Freunden schreiben, die ich fürs Leben gefunden hätte oder Partys erzählen, die unvergessen bleiben; aber ein unbeliebter Eindruck geht mir einfach nicht aus dem Kopf: wir sind faul!  

Alle ausgestiegen? Gut, dann kann ich jetzt alles schreiben, was ich will: ich finde Medienökonomie furchtbar! Einige lesen weiter? Na schön. Naja, Medienökonomie ist gar nicht so verkehrt und wir sind auch nicht wirklich faul. Die Aussage alle Studierenden seien faul stimmt nicht. Nicht, weil wir alle fleißig die Welt verändern, sondern weil wir keine Studierenden sind; wir sind Konsumierende. Vielleicht sind wir nie Studierende gewesen. Was soll das überhaupt sein, Studierende? Sind es die ziemann’schen Ansprüche – fünfzig Seiten Fachliteratur und zur Entspannung am Abend die Weltliteratur (was auch immer das heißt) – oder die wöchentliche Pilgerfahrt von Reservebank zum Falken und wieder zurück? Wahrscheinlich ist es nicht klug eine Definition für eine Gruppe Menschen aufzustellen, die definitiv nicht aus einheitlichen Teilen besteht. Wir sind weder alle arm, noch sind wir alle faul, noch exzellent, oder aktivistisch. Aber wir sind ja auch keine Studierenden, behaupte ich zumindest über uns. Warum? Erstens, weil es einen relevanten Unterschied macht, was studiert wird und zweitens, weil es einen relevanten Unterschied macht, wo studiert wird. Ich bleibe also regional, weimarisch, ein Medienkulturler, spricht über Medienkultur.

Ich behaupte, dass wir keine Studierende, sondern lediglich Konsumierende sind. Jetzt noch einmal den ganzen Bologna-Schwachsinn durchzukauen und auf den Begriff der Exzellenz, den der Verschulung und auf das blödsinnige Punktesystem einzuhacken, scheint nicht mehr ausreichend zu sein; das haben auch schon andere getan. Die nüchterne Erkenntnis: die Universität hat sich in den letzten Jahrzehnten zum Dienstleister entwickelt. Das Ziel ist die Produktion von Abschlüssen. In sechs oder vier Semestern sollen wir durch ein Studium geschleust werden, dessen Oberfläche wir nach drei oder zwei Jahren gerade einmal gestreift haben. Wir sollen möglichst viel mitnehmen, das Gelernte dann noch kritisch hinterfragen können und Arbeiten produzieren, die bestenfalls „neue Erkenntnisse“ hervorzaubern, oder eine Thematik behandeln, die sonst noch niemand in dieser Weise behandelt hat. Die Lehrenden sind wohlwollend. Sie wollen, dass wir das schaffen (meistens zumindest). „Keine Sorge, ihr müsst nicht das ganze Buch lesen. Lest die PDF da ist alles, was ihr für nächste Woche braucht.“ Jeder Moodle-Raum ist angereichert mit dutzenden Texten, die irgendwelche Kapitel aus irgendwelchen Büchern darstellen. Natürlich gibt es noch Zusatzliteratur, aber hat die jemals jemand gelesen? Es ist theoretisch möglich, ohne die Bibliothek einmal von innen gesehen zu haben, Medienkultur zu studieren. Wir verlassen uns auf das Portable Dokumentenformat; kritisieren die Dozierenden, dass die PDFs zu spät hochgeladen wurden, und bekommen wohlklingende Besserungsversprechen von selbigen. Wenn alle Texte online zu finden sind, dann könnten wir uns doch auch darauf einigen zumindest fünfzig Prozent der Seminarsitzungen digital stattfinden zu lassen; immerhin sind wir nicht immer in Weimar, sondern bei der Familie in Wuppertal.

Christiane Voss hat mir einmal in einem Interview verraten, sie hätte selbst als Studierende die Einführung in die Philosophie nicht zu Hause durcharbeiten können, weil ihr das Feedback und die Psychodynamiken der Gruppe von Studierenden und Lehrenden unersetzbar gefehlt hätten. Dass wir in den letzten Jahren so viel über die Online-Lehre gesprochen haben, ist interessant, dass die eigentlichen Probleme aber schon vor Corona aktuell waren, wird übersehen. Das PDF und die digitalisierten Seminarräume stellen uns vor die Einsamkeit, die uns dazu zwingt, die Einführung in die Medientheorie und auch alle anderen Lehrveranstaltungen zu Hause durchzuarbeiten; allein ohne Austausch. Natürlich sehen wir uns im Seminar, natürlich sehen wir uns auf dem Campus, in der M18, auf der Party am Freitag. Aber wir sehen uns nicht in der Lerngruppe, weil es diese kaum mehr gibt. Warum sollten wir Lerngruppen bilden, wenn wir das zu Lernende häppchenweise als PDF mundgerecht serviert bekommen? Warum sollten wir uns gruppieren, wenn nach dem Seminar niemand Lust hat über dessen Inhalte zu reden? Warum sollten wir über die Inhalte reden, wenn niemand für irgendwas davon eine brennende Leidenschaft entwickelt? Leidenschaft und Begehren sind Themen, die gerne aus der Universität herausgehalten werden. Was interessiert dich daran? Warum liest du gerade dieses Buch? Hast du schon einmal das Interview von Deleuze gesehen, in dem er über Intellektuelle ablästert? Mit Leidenschaft kann die Dienstleistungsuniversität nicht umgehen, weil sie vom Seminar- und Studienplan wegführt; weil sie mich in die Bibliothek trägt und zwingt die Regalnachbarn des Buchs, das mich interessiert unter die Lupe zu nehmen. Ich begehre nicht nur dieses Wissen, sondern seine Form, seine Verbindungen, seine Anschlussfähigkeit, die Milieus, in die es mich zieht. Bevor wir aufstehen und TikTok für das Verkommen „der Jugend“ verantwortlich machen, sollten wir über das PDF-TikTok auf Moodle sprechen. Wir sollten über uns Studierende sprechen, die diese Dienstleistung natürlich dankend annehmen. Wir sollten über Medienkultur als unmögliches Studium sprechen. Ich blicke auf acht Semester zurück (das einzig Positive an Corona, war die Verlängerung der Regelstudienzeit) und bin frustriert. Warum denken die Leute, es sei noch immer eine gute Idee Medienökonomie und Medienkultur in einen Topf zu werfen? Transdisziplinarität hin oder her, wenn ihr Erstsemestlern – die meist gerade erst aus der Schule kommen – abverlangt eine Übersetzungsleistung zwischen BWL und Medientheorie hinzubekommen, die ihr selbst nicht leistet, dann frustriert das. Warum müssen wir diese Einführungen in BWL besuchen? Das frage ich mich. Andere werden fragen: was bringt mir die Einführung in die Medientheorie? In dem einen Seminar die moderne Erzählung kritisieren und dann im nächsten Seminar Marketingstrategien der Zukunft erörtern. Der Spagat haut nicht hin und das Schlimme daran ist, dass wir Studierende uns untereinander plötzlich nicht mehr verstehen. Wir sprechen unterschiedliche Sprachen, zurecht! Nach dem ersten Semester kann ich mich zwar entscheiden keine Ökonomieseminare mehr zu belegen, aber was ist mit „der Gesellschaft“, die mir einreden will, dass ich „handfeste“ Optionen brauche? Dann entscheide ich mich nicht gegen Marketing und Start-Up-Kultur. Dann belege ich weitere Ökonomie-Kurse, um danach herauszufinden, dass mich die besprochenen Inhalte überhaupt nicht interessieren, ich davon auch nichts mehr weiß. Der Arbeitsmarktdruck bleibt. Die ganze Medienkultur-Ambivalenz hilft nicht dabei den gefühlten Druck zu überwinden und echte Leidenschaft für das, was man studiert zu entwickeln. Das PDF-TikTok von Moodle macht alles nur noch schlimmer; es erlaubt mir zu Hause zu bleiben, obwohl ich in die Bibliothek gehöre. Es erlaubt mir das flüchtige Lesen, obwohl mich das ganze Buch eigentlich brennender interessieren könnte. Es erlaubt mir ein Wegducken vor vermeintlich zu viel Arbeit, die mich erfüllen könnte. Eine PDF hat keine Regalnachbarn. Ich klage das Portable Dokumentenformat an mir mein Studium zu ruinieren, mir meine Leidenschaft zu rauben. Versteht mich nicht falsch: niemand ist schuld. Weder die wohlwollenden Dozierenden noch wir Konsumierenden. Es ist das PDF, das uns alle dazu zwingt, Dienstleistende und Konsumierende zu werden. Das PDF macht aus Bachelorstudium eine Abiturprothese; eine Verlängerung der Schulzeit über das gesunde Maß hinaus. Der Bachelor ist keine große neue Freiheit. Es ist ein Druck der Orientierungslosigkeit, die so viele, auch mich, nach dem Abitur befällt. Es ist das PDF, dass uns auf die Arbeitsblätter unserer Schulzeit zurückwirft; nichts ist abstoßender als ein Arbeitsblatt. Allein das Wort weckt schreckliche Assoziationen, die nichts mit Leidenschaft zu tun haben.

Ich freue mich auf die nahe Zukunft. Ich freue mich auf die Medientheorie des PDFs. Ich freue mich aber besonders darüber, eine Leidenschaft für Medienkultur und Medienphilosophie entdeckt zu haben, die es mir erlaubt, die kritischen Stimmen auszublenden und auf die Frage was man denn damit anfangen könne später, selbstbewusst sagen zu können: „nichts! Warum sollte ich damit etwas anfangen wollen? Lass es mich doch erst einmal beenden, bevor ich etwas anfange.“ Gleichzeitig fürchte ich, dass viele diese Leidenschaft nicht entdecken können; nicht, weil sie sich nicht dafür interessierten, oder weil sie „dumm“ seien, sondern weil sie nie wirklich Studierende sein konnten, was die Universität auch nicht zulassen würde. Corona hat keine neue Einsamkeit geschaffen. Die Einsamkeit gab es vorher schon, sie war immer präsent.

Das angesprochene Interview mit Christiane Voss findet ihr hier:
https://www.uni-weimar.de/projekte/was-ist-universitaet/prof-dr-christiane-voss-professorin-fuer-philosophie-audiovisueller-medien/