Herbert Wentscher Lichtspiele

Kunst im Doppelpack ist Kunst ohne Starallüren ist Kunst für alle. Kein Sixpack von Aldi und doch eine Absage an jene, die sich durch ihren Geschmack über die Niederungen des Volkes erheben wollen. »Im Doppelpack« ist Kunst ohne Sockel. Also genau das, was Herbert Wentscher macht, und zwar schon länger. Vielleicht legte nordisches Understatement den Grund; er kam nicht umsonst in Oldenburg zur Welt, auch wenn es ihn dann nach Freiburg verschlug und von dort nach Weimar, wo er an der Bauhaus-Universität lehrt. Ganz bestimmt haben ihn Mitte der 70er Jahre die ersten Aufenthalte in London und New York geprägt, wo Pop Art einst die ästhetische Kultur der Massen umarmte und neue Medien wie Video ihre ersten Gehversuche auf dem Kunstmarkt unternahmen. Prätentionen auf die Weihen höherer Kunst bringt er seither mit sanftem Spott zu Fall. Das gilt nicht zuletzt für die neuen Medien, die für Wentscher längst die alten sind, auch wenn ein akademisch bestallter NeuMedienKunst-Diskurs Runde um Runde die totale Revolution ausruft, nur weil die bekannten Pixel nunmehr von Weichware manipulierbar über den Bildschirm flimmern. Wentscher bringt lieber ohne Aufhebens sein Notebook auf den neuesten Stand, und wenn er den Blick hebt, sieht er entweder einen Postkarten-Sonnenuntergang, draußen, oder drinnen den Video-Altar: einen schwarzen Monitor auf schwarzem Säulenschlußstück. Dieser Sockel ist natürlich reinste Ironie, der Künstler vergöttert die neuen Medien nicht, er nutzt und reflektiert sie. Wie andere Medien auch. Denn Herbert Wentscher kennt neben Pixeln noch Pigmente, er malt ganz ungerührt. Das ist die coole Geste, die ihn zum wahren Medienkünstler macht: weil sein Blick über das Angesagte hinausreicht. Er kennt die Vorgeschichte der neuen Medien, er hat sogar ein wunderschönes, noch unveröffentlichtes Buch darüber geschrieben: Vor dem Schirm. Darin erzählt er, auf unnachahmlich leichte Art, vom Drang der Bilder zum Schirm. Es ist eine uralte Sehnsucht, die sich im Bildschirm des Fernsehers erfüllt, und herrlich sind die Vorstufen, die der Autor im Rausch des analogischen Sehens für uns entdeckt. An den Anfang der Bilderkästen stellt er den Altar. Da ist er, der kultische Gebrauch vom Medium, den wir zunächst auch vom Fernseher machten, wenn wir uns andächtig vorm Bildschirm versammelten. Doch die Veralltäglichung zum Hintergrundmedium der Spaßgesellschaft ließ nicht lang auf sich warten, mit der Einführung des Teleshoppings steht uns die letzte Entzauberung bevor. Medienkunst bewegt sich wie ein Jo-Jo zwischen Kult und Ulk. »Video« – »ich sehe« kann vieles heißen. Wentschers »video« kreuzt Vision und Glotze: ein Bastard unserer Zeit.
Nun also stehen Werke der letzten Jahre in der Kunsthalle Erfurt zur Schau. Einen besseren Ort hätten sie nicht finden können: ein früheres Lichtspielhaus für nunmehr elektronische Spiele mit Licht! Vom Videoleuchter bis zum Lunarium sind alle von Wentscher erdachten Apparaturen auch optisches Spielzeug in der Tradition der modernen Illusionsmaschinen seit Camera obscura und Laterna magica. Und ganz wie beim Lichtbild und später noch einmal seinem bewegten Sproß im Kino ist das Staunen über die gelungene Täuschung ein nie versiegender Quell des ästhetischen Vergnügens. Wie die Kerzenflammen im Videoleuchter nach unten brennen – wow! Allerdings sind die Spezialeffekte anders als in Hollywood nicht der Höhepunkt. Das Staunen ist hier nämlich nur der Anfang der Philosophie.

Mehr Licht?

Die Lichtmetaphorik der Aufklärung hat ihre Tücken. Medienkunst jedenfalls scheut das Licht – nur im Dunkeln entfaltet das elektronische Flackern seine volle Wirkung. Der Videoleuchter faßt die Fortschritte der Lichttechnik wie im Zeitraffer zusammen: Der Fackelträger als Kerzenleuchter-Figur trägt Videoflammen. Damit hat die Elektrifizierung in der Simulation des Feuers ihren Endpunkt erreicht. Die Schwerkraft scheint überwunden, aber der eigentliche Witz ist, daß das Schauspiel der Flammen fasziniert wie am ersten Tag: Der Zauber ist ungebrochen, hier ist der Bildschirm tatsächlich das mediale Lagerfeuer der Gegenwart, das uns erleuchtet. Oder einlullt: das ornamentale Flackern wirkt wie Minimalmusik nicht nur meditativ. Darum dreht sich‘s in den Drehleuchten. Sie erinnern an die Einschlafhilfen für Kinder. Aber es sind optische Tranquilizer für überreizte Erwachsene – wie Fernseher. Einschalten und Einnicken sind eins – dank Endlosschleife des Immergleichen. Hier sedieren autosuggestive Formeln, Warnbaken und die Fieberkurven der Bilanz. Wie wahr: auch Katastrophenmeldungen stumpfen mit der Zeit ab, die Volksaktie Telekom hat es uns beigebracht! Anders das Lunarium. Das welterste Mondstudio, genauer gesagt der Werbezettel dazu verspricht uns Regeneration durch simuliertes Mondlicht, das Gefühle spürbarer macht, die Folgen einseitiger Sonnenanbetung hautschonend ausgleicht und uns für nachhaltigen Kunstgenuss sensibilisiert. Das wirkt, gerade weil es kein Schlagwort auslässt und den Ton der Vermarkter haargenau trifft, zart ironisch – und behält unverschämterweise in der Sache recht. Im Dunkeln wartet, von fahlem Licht übergossen, eine nüchterne Liege. Kein Schimmer von Mondscheinromantik, unsere Welt ist entzaubert, der Kult von Sonne und Mond im 21. Jahrhundert kennt keinen Gott ausser dem eigenen Selbst, für das man ganz diesseitig Sorge trägt. Wir betten unseren armen reizüberfluteten Körper auf die Bahre, als ginge es ans Sterben. Ganz kurz überfällt uns Müdigkeit. Dann kommt die große Erweckung der Sinne. Wir spüren den zuckenden Muskel im Rücken, das pochende Herz und nehmen wahr, ganz rein und unbeteiligt, was die Welt von draußen an Geräuschen an uns heranspült. Kein Hinwegdämmern ins Reich der Träume – das Dimmen reinigt die Sinne und schärft die Aufmerksamkeit. Das tut zeitgenössische Kunst schon länger immer da, wo sie der Reizüberflutung mit Reizentzug begegnet: Wo wenig ist, wie bei Tuttle, ist mehr Wahrnehmung für dessen künstlerische Geste. Aber beim Lunarium wird die Erneuerung des Wahrnehmungsapparats zum Hauptzweck. Wie wir den Zugewinn nutzen, ob beim Betrachten von Bildern im Museum oder von Menschen auf der Straße, ist unsere Sache; oft sind Menschen einfach interessanter. So oder so – dieses Lunarium ist famos. Es positioniert sich durch perfekte Mimikry als massenkompatibler Trendartikel einer erlebnishungrigen Gesellschaft und wirkt zugleich nach beiden Seiten subversiv. Denn so ein Wellness- und Sensibilisierungs-Apparat ironisiert ja nicht nur die Klischees der Werbetexter von Massenkultur – die Mantras der Werbetexter von Elitenkultur, also der Kunstkritiker trifft es gleich mit! Herbert Wentscher lauscht nach allen Richtungen. Das verleiht manchen Werken einen zeitdiagnostischen Zug. Er weiß, wie man an die gängigen Diskurse anschließt. Aber vereinnahmen läßt sich so ein Lunarium nicht: Was es bietet, ist besser als pompöse Worte.

Bilder schirmen

Fernseher gibt es schon lange, sagt Wentscher – und zeigt uns die Schaubühne einer Kristallkugel. Die dem Bullauge eines amerikanischen TV-Geräts von 1948 verblüffend ähnlich sieht. Ein profaneres Beispiel sind Zeitungskioske: Was sind sie anderes als Bilderkästen, Schaufenster für Bilder aus der weiten Welt? Ein riesiger Splitscreen für die bunten Titelseiten der Magazine – das säuberliche Raster des New Yorker Kiosks bringt es auf den Punkt. Und das nach allen Seiten – die Kioske sind Häuser aus Bildern, die reinsten Medienhütten. Seit Jahren macht Wentscher Aufnahmen davon. So entsteht eine Typologie der Zweckbauten und zugleich eine Zeitreise vom neoklassizistischen Rundtempelchen in Berlin bis zum Pariser High-Tech-Look. Als visuelle Anthropologie von Alltagsästhetik gewährt sie tiefe Einblicke in den Lokalstil, den barbarischen Funktionalismus von Köln, die Hypertrophie des Designs in New York. Die Hüttenform aber deckt die Dialektik des Bildschirms auf: Drinnen, im Auge des Bildersturms, herrscht Ruhe, der Kasten verschirmter Bilder schützt, er schirmt ab wie ein Paravent. Noch deutlicher wird das Doppel von ausstellender und verhüllender Funktion im (hier nicht ausgestellten) Wappenschirm, denn im Wappenbild sind Waffe und Schirm noch präsent. Schon 1974 sah Wentscher im Wappen den Bildschirm, nun projiziert er ins Raster seiner damaligen Malerei Buchstaben, die zwischen Renaissance-Anagramm und Flughafenanzeige oszillieren. Das ergibt eine Zeitmaschine, die uns durch die Medien- und Wentschers Werkgeschichte katapultiert. Dabei erscheint, was sich in den Pigment- und Pixel-Lasuren überlagert, als Formwandel, in dem sich Substantielles erhält.

Morphing

Formwandel, das ist's, was den Künstler fasziniert. Ganz besonders seine neueste, erstaunlichste Form: das computergestützte Morphing von Bildern. Das Elementares Triptychon, eine Videobeam-Installation in Form eines Dreiflügel-Altars, morpht Natur, die an drei Elemente erinnert: Wolke, Schaum und Erdapfel. Allerdings nicht spektakulär von Schaum zu Schaumgeborener und auch nicht wie in Paul Verhoevens Hollow Man vom Mann zum Nichts. Aus einer Kartoffel wird eine andere. Das wirkt seltsam sinister. Der von mediatisierten Diskursen skandalisierte Mensch denkt unvermeidlich an Futter vom digitalen Reißbrett, an CAD-Melonen in Würfelform, an gentechnologische Vergewaltigung der Natur durch die Food-Industrie. Doch morpht die Natur nicht selbst - wie die unschuldigen Bläschen nebenan? Was wäre die Geschichte des Lebens, wenn nicht ein gigantischer Morph? Ausgerechnet die Wolken, das grandiose Urbild beständigen Formwandels am Himmelsschirm, morpht der Künstler mit Hinterlist kaum merklich von Rechnerhand. Macht es einen Unterschied? Wentscher kontert die mentalen Klischees mit elementarem bildlichen Denken. Die rousseauistische Verklärung des vermeintlichen Naturzustands ist ein Ressentiment wie der Bannfluch, den die Ästheten über das revolutionärste und plebejischste der neuen Medien, das Lichtbild verhängten. Selbstredend hielt der Bannfluch die stürmische Evolution der Medien und Koevolution der menschlichen Wahrnehmung nicht auf. Heute sind es die digitalen Verfahren der Bildgeneration, die uns fesseln. Im Morphing steigert das elektronische Medium den Lichtbild-Illusionismus nochmals weit über das für möglich gehaltene hinaus, läßt im detailrealistischen Code der Fotografie wirklich erscheinen, wovon wir wissen, daß es nie war. So führt das neue Medium von der dokumentarischen Spur des Gewesenen ins Reich des Erträumten. Doch wer führt nun den berühmten »Zeichenstift der Natur«?
Der Hl. Lukas malt die Madonna morpht Kunst, nämlich Gemälde der stillenden Maria: eine Madonna geht in die andere über. Der Titel verweist auf eine alte Malerlegende: Der heilige Lukas will die Madonna malen, schläft dabei ein und entdeckt beim Erwachen das fertige Bild. Der christliche Mythos begreift den Künstler als von Gott inspiriertes Medium; der narkoleptische Lukas wird zum Schutzpatron der Maler, denen es Gott der Schöpfer im Schlaf eingibt. Wentschers Inszenierung läßt nun den Maler fort, übrig bleiben die morphende Madonna, ein Projektionsapparat und die bange Frage: Ersetzt bei Verfahren der digitalen Bildgeneration die Maschine das göttlich inspirierte Medium Mensch? Dies wäre das Credo des Techno-Diskurses, der in der Abwertung des schöpferischen menschlichen Subjekts sich mit dem Sinn der LukasIegende berührt. Wir dagegen sind überzeugt, daß Maschinen zwar wie Frauen oder Götter inspirieren können - aber nicht sich selbst. Was die morphende Madonna eigentlich demonstriert, und das brilliant, ist eine kunstgeschichtliche Grunderfahrung: daß und wie sehr sich die Bilder, ist der Typus erst gefunden, wiederholen. Das gilt, trotz moderner Originalitätsansprüche, bis heute und ganz besonders für alle Ein-Konzept-Künstler, die sich durch einen markanten Stil als Marke auf dem Markt behaupten. Kunstgeschichte ist Abwandlung des Gegebenen, sie ist, so die selbstironische Metapher, ein beständiges Morphing. Das gleiche gilt für die Mediengeschichte, die Wentscher in Vor dem Schirm erzählt. Das Gegebene beruht auf seltenen Augenblicken echter Eingebung - doch dann setzt ein Prozeß des Formwandels ein, der in der Tat manchmal den Eindruck apparativer Selbsttätigkeit macht. Womit hier gerade nicht einer diktatorischen Ontologie des Apparativen à la Flusser das Wort geredet werden soll. Da knüpfen wir lieber ans Schnarchen und Gurgeln der Tonspur an. Konfrontiert Wentschers Arrangement nicht zwei Formen der Kreativität: eine der weiblichen Natur, die neue Menschen schafft - und eine der männlichen Kunst, die sich in der Moderne zunehmend in die Theorieproduktion rettet? Was ist fruchtbarer? Das Stillen im Hörsaal gab zu verstehen, daß kreatürliche Kreativität im Kurs steigt – ist akademisches Theorie-Morphing nicht tatsächlich verschnarcht? Oder ist elektronische Medienkunst der goldene Mittelweg – ein Feld, auf dem sich heute Frauen so selbstverständlich wie Männer bewegen, selbsttätig?

Licht

Der Inspirationsbegriff erklärt, wie das Neue auf die Welt kommt: Schöpfertum beruht auf Eingebung. Das ist bescheiden. Aber das Publikum liebt den Künstler unbescheiden und erhebt ihn zum Genie: ein Traum vom Übermenschen. Wentscher, der Medienkünstler, vergöttert weder Künstler noch Medien. Zum Kronzeugen macht er Goethe und zum Medium seiner Botschaft eine lustige Videolied-Installation, SALVE/SLAVE. Dort tritt der Dichter-Fürst als Rapper auf und verkündet in rotzigen Sprüchen, was ihn inspiriert: seine Geliebten, die irdische Lust. Dazu hatte sich Goethe in den »Römischen Elegien« bekannt, und das so sinnlich, daß ein empörter Zeitgenosse mit Blick auf die veröffentlichende Zeitschrift »Die Horen« von ‚»Huren« schäumte... Ausgerechnet dieser Star des Geniekults hat also das antike Inspirationsmodell dreist vermenschlicht; wer heute von »weiblichen Musen« spricht, meint Frauen aus Fleisch und Blut. Wentscher treibt die Frivolität weiter bis in die Gegenwart von MTV, Fun und Love Parade. Sein Goethe-Rap spielt Light-Produkt, er nimmt dem zur Klassik erstarrten E-Kunst-Label die Schwere, das Gravitätische lateinisch grundierter Hochkultur. Damit schubst er das Standbild vom Kunst-Sockel des Museums, der Totenhalle der Kunst, mitten hinein ins pralle Leben der Pop-Kultur. Aus E mach U – eine herrliche Auferstehung. Wäre da nicht die Mediatisierung allen Entertainments. Was ist noch sinnlich an einer Fernbedienung, diesem Symbol einer vergleichgültigenden, passiven Rezeption? Konsumenten hocken vor der Glotze und zappen sich durchs Programm. Das macht sie zur fernbedienten Couchkartoffel im doppelten Sinn – zum Sklaven ihrer Launen. Herbert Wentscher bedenkt, wenn er den deutschen Abgrund zwischen Kunst und Vergnügen überbrückt, die Kehrseite mit. Er weiß, daß sich die Logik der Distinktion, auf der die Geschmacksunterschiede beruhen, durch Kreuzung der ästhetischen Codes nicht wirklich aufheben läßt. Aber er ist ein Meister darin, die Tiefe wie Hugo von Hofmannsthal »zu verstecken. Wo? An der Oberfläche«. So ist, trotz des parodistischen Anstrichs, Goethes Schlußwort aus der Kiste heimliches Motto aller Werke des Medienkünstlers: «Vor allem wünscht’ ich uns MEHR LICHT!« Und so kann es geschehen, daß sich im Bildwitz nicht wenig Tristesse verbirgt. Natürlich warten wir vor Kick gespannt auf den Augenblick, in dem der Künstler den Ball ins Bullauge der Kamera kickt und damit den Bildschirm füllt. Aber zeigt dieser der Sportschau entlehnte Spieltest nicht auch den Autismus von Videospielern und -künstlern? Bleiben wir nicht alle im Käfig unseres Leitzordner-Alltags gefangen? Wie klein sind die Fluchten, die uns die Unterhaltungsindustrie gönnt – und wie sehr erinnern sie noch immer an die Tretmühle! Der Kick, den uns dieses Spielzeug verschafft, hat eine resignative Note, als würde die Lust zur Last.

Prototyp

Morphing once more. Doch dieser Gestaltwandel stellt alles in Schatten. Selbst die computergenerierten Akteure aus »Final Fantasy« verblassen vor Colour Management: kein Finale, sondern ein fantastischer Aufbruch durch das Bündnis von Wissenschaft und Kunst. Der Kaukasier (hier als Begriff für europäische Abstammung) Herbert Wentscher verwandelt sich in einen Asiaten. Und zurück. Stufenlos. Und dann in einen Schwarzen. Und bleibt bei alledem - er selbst! Sein Video ist ein grandioser Selbst-Versuch, der ins Herz unseres Selbstverständnisses zielt. Wir glaubten uns einer Rasse zugehörig und hielten das entsprechende Erscheinungsbild für eine unveränderliche Mitgift der Natur. Nun erleben wir das teilgruppentypische Aussehen als frei wählbare Kostümierung unseres Ichs. Der Loop demonstriert die Möglichkeit eines radikalen Colour Managements weit über das Bräunen im Sonnenstudio hinaus. Das ist nicht etwa Zukunftsmusik: Michael Jacksons unerhörter Farb- und Gestaltwandel zeigt, daß die plastische Chirurgie die Rassen- längst wie die Geschlechtsumwandlung beherrscht. Jedes Bild in Wentschers Video ist Entwurf zu einer möglichen Reise von Körper zu Körper, eine moderne Seelenwanderung, die Reinkarnation des technischen Zeitalters. Colour Management radikalisiert Rimbauds »Ich ist ein Anderer« zu »Ich könnte jeder Andere sein« und visualisiert in der erhaltenen Selbstähnlichkeit, daß alle Menschen Brüder und Schwestern sind: die Menschheit als Familie, als Äpfel von einem Stamm. Damit verhilft Wentscher genau da, wo für gewöhnlich die partikularistische Logik kollektiver Selbstabgrenzung ansetzt, nämlich beim sichtbaren Anderssein, dem Gegenentwurf eines allumfassenden Wir-Ideals zu verblüffender Anschaulichkeit. Seeing is believing... Das ist die eine Hälfte der Geschichte. Die andere ist aber nicht minder faszinierend. Denn Wentschers Video macht künstlerischen Gebrauch von einer bemerkenswerten informationstechnologischen Innovation: einem vollautomatischen Programm zur interaktiven 3D-Gesichtsmodellierung und Gesichtserkennung, kurz »Computer Aided Face Engineering«. Das von Thomas Vetter und Volker Blanz, Universität Freiburg, entwickelte Verfahren ist tatsächlich »cutting edge« – und selbst für Hollywood eine attraktive Neuheit. Es ermöglicht die Synthese dreidimensionaler Gesichtsmodelle, frei oder nach zweidimensionalen Bildern, und deren gezielten Formwandel gleich Modellierung nach Eigenschaften wie Alter, Geschlecht, Ausdruck, Gewicht, Kenntlichkeit – die Übertreibung zur Karikatur und deren Gegenteil – und nicht zuletzt Rasse. Der entscheidende Kniff ist ein morphbarer Referenzkopf, der nichts anderes als der Mittelwert aus derzeit zweihundert männlichen und weiblichen Kaukasiern ist - und erstaunlicherweise bereits auf dieser schmalen Datenbasis die Plausibilität, also Natürlichkeit der errechenbaren Köpfe sicherstellt. Das Individuum ist nach diesem Verfahren als Abweichung vom Mittelwert rekonstruierbar. Der asiatische Herbert Wentscher ist dann die Summe zweier Abweichungen, nämlich der individuellen und der gemittelten rassischen, vom kaukasischen Mittelwert gleich Referenzkopf. Das erlaubt den stufenlosen Morph vom rekonstruierten zum konstruierten Individuum, von Punkt zu korrespondierendem Punkt der Gesichter. Der Witz an der Sache ist, daß der zur Hilfe genommene Mittelwertkopf keineswegs besonders häufig in der Natur aufzutreten braucht. Vielleicht ist er eher selten - wie die mittleren Werte zwischen männlichem und weiblichen Aussehen. Aber vieles deutet darauf hin, daß es ihn wahrnehmungspsychologisch gibt: Menschen gehen bei der Gesichtserkennung von Prototypen aus. Dabei spielt die frühkindliche Prägung eine große Rolle, so daß, wer seinen Prototyp von kaukasischen Gesichtern abstrahierte, sich fortan schwertut, nichtkaukasische Gesichter zu unterscheiden – der bekannte »other race effect«. Wie dem auch sei: Der Prototyp mag halbwegs fiktiv sein, hypothetisch wie das Allgemeine bei Kant, in der rechnerischen Simulation wirkt er Wunder. Damit wird hier die Idee – letztlich die Idee des Menschen an sich - geradezu exemplarisch zum Erzeuger oder Schöpfer von vorübergehenden Lichtbild-Erscheinungen des Naturmöglichen.

Totgesagte leben länger

Wie oft haben wir hören müssen »Das TafeIbild ist tot - ein Satz, mit dem man als Kurator und Kritiker Karriere machen konnte. Glücklicherweise lassen sich starke Künstler von halbstarken Sprüchen nicht beeindrucken. Herbert Wentscher jedenfalls, der Medienkünstler, malt. Seine eigentümliche Variante von Pointillismus kostet Strich für Strich und Schicht für Schicht das Handwerk der Malerei aus und stellt so dem flüchtigen Tanz der Elektronen ein schillerndes Standbild gegenüber. Der detailrealistische Code der Fotografie entfällt, das Spiel verlegt sich auf zweidimensional Zeichenhaftes, das wie auf einer Lichtbühne auftritt und sich manchmal in die dritte Dimension vortastet – ohne je zur Illusion eines greifbaren Gegenstands zu gerinnen, eines Dings von dieser Welt. Die Motive mögen unterwegs entdeckt worden sein, immer sind sie dem eindimensional Wirklichen entfremdet: Dies sind eher Ideen von Dingen als ihre Abbilder; von groben, aspektweise annähernden Programmen errechnete Figuren. Die Peinture allerdings ist sensualistisch und fördert eine ebensolche Haltung: Vor jedem Nachsinnen sind die Sinne gefragt. Ihnen bietet Wentscher ein Flirren, das an Gustave Moreaus optischen Luxus erinnert – nur daß sich das Fieberhaft-Symbolistische charakteristisch abgekühlt hat: Mit spitzbübischer Lust trivialisiert der Maler die Theorie des Fraktalen zum Baguette‑Baum und konterkariert das Modewort von der Schnittstelle Mensch-Maschine mit kitschiger Morgenröte. Zugleich steigert sich unter seinen Händen das schlichteste Signum, diese Reduktion von sinnlicher Welt auf eine griffige Formel, zur geisterhaften Erscheinung. Aus dem Zwielicht der Farben schält sich eine mögliche Vision. Dem Tele- und Videovisionären steht sie näher als es scheint: als Lichterscheinung.

Bilder denken

Dies dazu, was uns der Künstler bietet. Doch ebenso bemerkenswert ist, was er verweigert: sich selbst. Herbert Wentscher spricht nicht von Herbert Wentscher. Wenn er überhaupt erscheint, wie in Colour Management, dann nur als austauschbares Versuchskaninchen; tatsächlich sieht der Entwurf vor, in Zukunft den Betrachtern den Versuch an Ort und Stelle durch einen Scan selbst zu ermöglichen. Die narzißtische Ästhetik, die Rosalind Krauss der Videokunst attestierte, liegt Wentscher denkbar fern. Andere Künstler stellen sich vor die Kamera und bespiegeln sich selbst. Herbert Wentscher findet, daß es interessantere Themen gibt. Wer mehr als eine Videokunst-Ausstellung hinter sich brachte, dürfte ihm Recht geben – trotz großartiger Ausnahmen. Dem Drang der neuen Medien zur Selbstreflexion verweigert er sich nicht. Aber er verknüpft dies regelmäßig mit Themen, die er jenseits des diskursiven Miniversums von Kunst und Selbst entdeckt: nämlich draußen, in der Welt. Der Horizont des Wanderers ist weit. Er denkt global – und handelt lokal. Das Wappen von Freiburg kreuzt das im Stadtwappen angeeignete christliche Fundamentalsymbol mit konstruktivistischer Reduktion und dem ersten Videospiel PONG. So entsteht ein wanderndes rotes Kreuz, das aus dem Käfig des Bildschirms nicht hinausgelangt – es prallt zurück ins Feld. Das ist der Kirchturmshorizont, den der Künstler zugleich berücksichtigen und überwinden muß. Zum Beispiel durch Goldhorn: Die Installation im Sønderjyllands Kunstmuseum in Tønder, Dänemark, reflektiert die Geschichte zweier in Tønder gefundener goldener Hörner, die zur nationalen Legende wurden. Mit historischem Gemälde, Guldhorn-Rap-Videoclip und Website umspielt Wentscher den Mythos im Marsch durch die Medien als kulturelles Gedächtnis. Oder Tanz den Schlemmer: Hier überspielt der Künstler am Ort seines akademischen Wirkens, im Bauhaus von Weimar, ein historisches Wandgemälde von Oskar Schlemmer mit einer Videoprojektion, die den starren Tanz der Silhouetten mit Lichtball und Nicken wunderbar belebt. Hier führt Goethes »Mehr Licht!« tatsächlich zur Animation einer halb musealisierten Kunstgeschichte durch eine ortspezifische Medieninstallation.
Formwandel ist in diesem Œuvre Leitgedanke. Das führt zu einem gesunden Mißtrauen gegenüber selbstvermarktenden Überspanntheiten des NeuMedienKunst-Diskurses. Wentscher hält es lieber mit Nestroy: »Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.« Er beschreibt evolutionäre Kontinuitäten, wo die Meister der rasenden Rede medienwirksam von radikalen Brüchen und anthropologischen Umwälzungen träumen – als hätten wir das Jahrhundert der katastrophalen Utopien nicht allmählich hinter uns. Herbert Wentscher spielt eines nie und nimmer: den Propheten. Daß es nur auf die Schönheit des Gedankens ankomme, dieses Credo vieler Konzeptualisten teilt er nicht. Darum feilt er ohne Ende am Erscheinungsbild seiner Werke, und darum übertreffen die Erfahrungen, die man mit ihnen machen kann, bei weitem den Entwurf, das »Konzept«. Das Sinnliche ist hier das unentbehrliche Sprungbrett fürs Denken, das Bildnerische ein Werkzeug der Welterkundung und mehr: eine Form zu denken – im Bild.

Ludwig Ammann

Ausstellungskataloge »Doppelpack«, Kunsthalle Erfurt, 2001

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