Der heilige Lucas malt die Madonna

Für Herbert Wentscher bedeutet Interpretation von Realität immer auch das Fragen nach den Formen ihrer Wahrnehmung. Seine Bildwelt baut auf der Zeichenhaftigkeit der Dinge auf und unterläuft sie gleichzeitig. Sein ironisches, reflektionsreiches Spiel mit den wechselnden Bedeutungen von Symbolen, vor allem auch aus der mythologischen und christlichen Ikonografie, gleichwohl einen tiefen Sinn, indem es die Konventionen unserer Wahrnehmung nachhaltig in Frage stellt. Bereits in seinen 1979/89 mit Ölstiften gemalten Postkarten ging es ihm um eine Art Inventar derjenigen Symbole und Zeichen, die auch in seinen großformatigen Acryl-Bildern auftauchen, und die auf Archetypen des Erhabenen, Heiligen, Unschuldigen verweisen: »Zeichen und Symbole finden sich überall, wo der Mensch Wirklichkeit zu bannen und zu verarbeiten sucht.«1 Mystisches und Triviales, Sinnbildliches und Faktisches, Feierliches und Komisches werden hier durch Ironie in ständiger Balance gehalten.

Als Künstler benutzt er sowohl die traditionelle Malerei auf der über den Keilrahmen gespannten Leinwand als auch die digitalen Bilder, die mittels Bildschirm sichtbar sind. Dass es zwischen diesen beiden verschiedenen Medien starke Verbindungslinien gibt, zeigt sein 2002 veröffentlichtes Buch »Vor dem Schirm«, indem er eine anspielungsreiche Entwicklungsgeschichte der Bilder hin zum Schirm erzählt: »Schon in der Zeit vor dem Bildschirm gab es [...] fliegende Bilder, leuchtende Bilder [...] Visionen, Spiegelungen sowie bildgebende Kästen, Möbel, Wände.«2 An den Anfang der Bilderkästen stellt er den Altar und verweist so auf den kultischen Hintergrund unseres alltäglichen Versammlungsrituals vor dem Bildschirm. Auch seine zwitterhaften Apparaturen wie der »Videoleuchter« von 1996 stehen in der Tradition moderner Illusionsmaschinen in der Nachfolge der Camera obscura und der Laterna magica und setzen sich auf hintergründig-ironische Weise mit der Lichtmetaphorik auseinander.

In seiner Video-Installation »Der heilige Lukas malt die Madonna« greift Wentscher auf die bekannte Legende zurück, wonach der Evangelist Lukas die Gottesmutter Maria zu malen begonnen habe, dabei einschlief und nach dem Erwachen das wundersam vollendete Bildnis vorfand. Diese Entstehungslegende, die ihren Ausgang im 7. Jahrhundert nahm, legitimierte die Existenz des Marienbildes trotz des alttestamentarischen Bilderverbots, da es auf ähnlich wunderbare Weise und mit göttlichem Einverständnis entstanden war - wie das erste Bild des Gottesohns als Abdruck seines Gesichts auf einem Leinentuch. Die Wirkmächtigkeit dieser »göttlichen« Bilder weckte bei den Gläubigen den Wunsch nach Teilhabe, den man mit der Vervielfältigung des Originals zu erfüllen suchte: Bei getreuer Nachbildung sollten die Wunderkräfte auch auf die Kopie übergehen. Während die Ikonenmalerei der oströmischen Kirche sich eng an dieses Urbild hielt, entwickelte die abendländische Kunst eine reiche Vielfalt der Interpretationen. In Herbert Wentschers Inszenierung werden verschiedene, aus der Kunstgeschichte bekannte Darstellungen der stillenden Madonna auf ein an der Wand hängendes, weiß grundiertes Leinwandbild projiziert, wo sie durch Morphing in einem ständigen Formwandel ineinander übergehen. Im Gegensatz zum christlichen Mythos, der den Künstler als von Gott inspiriertes Medium begreift, führt Wentscher hier einen Lichtbildillusionismus vor, der von einem Apparat, einer Lichtbildmaschine gesteuert wird. Damit berührt er nicht nur grundlegende Bereiche des Künstlerselbstverständnisses, sondern stellt auch die Fragen nach der Authentizität der Bilder und ihren Originalitätsanspruch.

Literatur

Medien Kunst Aktion/Interaktion. Medienkunst in Deutschland 1960-99. Ausst.-Kat. Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe 2000.
Herbert Wentscher, Ausst.-Kat. Kunsthalle Erfurt, Erfurt 2000.

1 Herbert Wentscher, hier zit. nach: Annelie Pohlen, Verführung und Ironie. Dreizehn Postkarten von Herbert Wentscher, in: Kunstforum, Bd. 58, S.
2 Herbert Wentscher, Vor dem Schirm, Freiburg/Br. 2002, S.5.

Dr. Gerda Wendermann,
Ausstellungskatalog »Wunder über Wunder«, Kunsthalle Erfurt 2007 (Kerber-Verlag)

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