Aufbruch ins Videowunderland

in: Video Rewind. Videowochen im Wenkenpark 1984 / 1986 / 1988, Basel 2013

Verglichen mit der heutigen rasanten Zunahme der Rechnergeschwindigkeit, der Festplatten- und Arbeitsspeicherkapazität, der Bildauflösung und der Abfolge von Software-Updates begann die Entwicklung und Nutzung der analogen Videotechnologie gemächlich. Gleichwohl erschienen die Fortschritte, die ich in den Siebziger- und Achtzigerjahren miterlebte, atemberaubend – nicht nur im Hinblick auf die neuen künstlerischen Ausdrucksformen, sondern auch wegen der technische Handhabbarkeit sowie den Produktions- und Distributionsmöglichkeiten, die das neue Medium eröffnete.

Während meiner Stuttgarter Studienzeit sah ich 1973 im dortigen Amerikahaus das Video »Global Groove« von Nam June Paik und wusste sofort, dass ich mit diesem Medium arbeiten wollte. Die Kunstakademie schaffte eine erste Videoaufnahmeeinheit mit einer Schwarz-Weiß-Kamera und einem großen separaten Aufnahmegerät mit Spulenbändern an. Mich faszinierte das »instant replay«, die direkte Kontrolle und Wiedergabe des Aufgenommenen, das einen undistanzierten, individuellen und damit ateliertauglichen Umgang mit bewegten Bildern versprach, den der Film bislang nicht bot. Da es noch keine erschwinglichen Geräte gab, filmte ich meine ersten Videoaufnahmen mit der Super8-Schmalfilmkamera vom Monitor ab, um sie mir zuhause auf dem Super8-Projektor anschauen zu können und die ungewohnten Linienraster in ihrer »Übersetzung« in körnigen Film auf mich wirken zu lassen.

1975 öffnete sich mir eine weitere Tür in das sich entwickelnde Videowunderland. Die School of Film and Television am Londoner Royal College of Art besass ein von der BBC ausgemustertes Farbfernsehstudio, in dem ich als Stipendiat meine ersten beiden Videos produzieren konnte, auf Zwei-Zoll-Bandmaterial. Während sich der Diskurs in der School um den strukturalistischen Film drehte, stürzte ich mich im Studio unter den besorgten Blicken des verantwortlichen Technikers auf die Schalttafeln, Schieberegler und Drehknöpfe, die in der Lage waren, Bildfarben zu verändern und unterschiedliche Bildquellen zu kombinieren. Mittels Chroma Key, Luminance Key, Überblendungen und anderen, »unorthodoxen« Manipulationen Bilder zu schaffen, vermittelte mir eine neue Ahnung davon, was ein Bild sein konnte – und dass die Realität des Abbilds jetzt zu einem Ausgangsmaterial, einem Werkstoff wurde, der, ähnlich wie ein Tonklumpen im Bildhaueratelier, in verschiedene Richtungen geformt werden kann. Plötzlich schien es möglich, den künstlerischen Schaffensprozess auf ein komplexes neues Medium zu übertragen, unter Einbeziehung von Raum, Zeit und Ton.

Als ich 1978 in New York studierte, war die Handhabung des Mediums schon einfacher. In einem Video-Kollektiv konnte man als Künstler tragbare Geräte mieten, und es gab Dreiviertel-Zoll-Farbvideobänder in den praktischen (U-matic-) Kassetten, die an einem ebenfalls gemieteten Schnittplatz bildgenau aneinandergefügt werden konnten. Aber wie sollte das Malen mit dem elektronischen Pinsel weitergehen, als meine Stipendien in den fernen Metropolen aufgebraucht waren? Es begann eine intensive Suche in Deutschland und Europa. Zwar schärfte die Einführung von MTV Anfang der Achtzigerjahre die öffentliche Wahrnehmung für einen neuen Bild–Rhythmus und steigerte das Interesse an ungewöhnlichen Bildern, aber die avancierten Produktionsmittel waren fest in der Hand des Fernsehens oder großer kommerzieller Studios, für Künstler also meist unzugänglich und unerschwinglich.

In dieser Aufbruchsstimmung, die vom Entdecker-Enthusiasmus für ein neues Medium ebenso geprägt war wie von der Mühseligkeit, geeignete Produktionsgelegenheiten zu finden, war der Kontakt zu Gleichgesinnten enorm wichtig. Eine »Szene« entstand erst langsam mit den ersten Videokunst-Ausstellungen (z.B. Köln, Marl 1982) und Video-Festivals (z.B. Montbéliard 1983), die den verstreuten »Einzelkämpfern« die Gelegenheit zur Begegnung und zum Informationsaustausch boten. Die Unterhaltungen am Rande der Vorführungen drehten sich um technische Entwicklungen und Geräteempfehlungen, über Arbeits- und Produktionsmöglichkeiten und natürlich um die ästhetischen und konzeptuellen Potenziale des neuen, von der etablierten Kunstszene argwöhnisch beäugten Mediums.

In dieser Zeit traf ich zum ersten Mal René Pulfer, der mir von einem unerhörten Vorhaben erzählte. Im Wenkenpark sollte für die Kunst mit dem neuen Medium eine Plattform geschaffen werden, die auf alle dringlichen Bedürfnisse der neuen Szene einging – von der Produktion über die Präsentation bis zur Diskussion. Es sollten nicht nur fertige Werke gezeigt, sondern Produktionsmittel gestellt und neue Arbeiten gefördert werden. Workshops sollten dem Dialog der eingeladenen Künstler untereinander und mit dem Publikum dienen. Das Ganze würde an einem höchst romantischen, historischen Ort stattfinden, der in kühnem Kontrast zur Zukunftsausrichtung der Veranstaltung stand – in einem Schlösschen im Park! Ein solches Event hatte es noch nicht gegeben und entsprechend aufregend war es, dabei zu sein. Die Auseinandersetzung mit dem Medium in den Facetten der unterschiedlichen Werke erfuhr durch die praktische Realisation von neuen Arbeiten und den hautnahen Kontakt zu den anwesenden internationalen Künstlern eine Intensität, die ich bis dahin nicht erlebt hatte.

Für mich wurde die Produktion von 4 neuen Videoliedern aus der Reihe »Alles bestens« (1982–1985) möglich, zu denen die Tonspur und das grobe Konzept bereits vorlagen: »Im Bett«, »Politik«, »Paris«, »Video«. Die Videogenossenschaft Basel war die Institution, wo die von der Alexander-Clavel-Stiftung geförderten Arbeiten entstanden. Über eine Wendeltreppe erreichbar, untergebracht in Spitzweg’schen Dachkammern des Kleinbasler Kasernenareals, gestattete mir die dort vorhandene technische Expertise und Ausstattung das Experimentieren mit der elektronischen Bildgestaltung. Die enge Räumlichkeit diente für Studioaufnahmen (mit Blue Box) ebenso wie für Experimente mit Bildübergängen (z.B. Wischblenden) und Bildverfremdungen (z.B. mit dem Farbgenerator). Zusätzlich zur vorhandenen U-matic-Aufnahme- und Schnitttechnik war ein Time Base Corrector mit integrierter Mischerfunktion angemietet worden, dessen Effekte in »Paris« und »Video« zum Einsatz kamen, z.B. die Mosaik-Funktion (eine stufenlos regelbare Verpixelung des Bildes) oder die mittels Joystick in Echtzeit zu bewerkstelligende Verschiebung des Bildes auf dem Schirm als Effektblende mit verschiedenen Formen und Farben.

Der Enthusiasmus, der alle Beteiligten beseelte und das Bewusstsein, das Entstehen einer neuen medialen Ära zu beobachten und daran mitzuarbeiten, war grenzenlos und trug die vom Wenkenpark ausgehenden Begegnungen und Kooperationen. Dies zeigte sich auch darin, dass für das Video »Politik« spontan einige junge Eltern ihre Kleinkinder für die Spielszenen »ausborgten«, oder die Basler Künstlerin Mireille Gros einen non-chalanten Auftritt als Venus für »Im Bett« beisteuerte. Allerdings schwebte mir vor, die Venus durch das Bild schweben zu lassen. Das Arbeiten mit mehreren Bildebenen war mit dem vorhandenen TBC jedoch nicht möglich, sondern nur mit einem sehr teuren Special-Effects-Gerät der amerikanischen Firma Quantel – in den Achtzigerjahren ein legendärer Name für alle Freunde elektronischer Bildexperimente. Ein solches Gerät besass die Zürcher Firma Polivideo. Es fügte sich, dass ich gerade ein Stipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg erhalten hatte, und so investierte ich dreieinhalbtausend Franken, um die Venus und noch ein anderes Bild für je 5 Sekunden entlang einer vorprogrammierten Flugbahn durch das darunter zum Vorschein kommende Bild fliegen zu sehen – so wie ich es mir gewünscht hatte. Sichtbar war nun, dass die Bildebenen wie Zwiebelschalen geschichtet sind, dass jedes Bild potenziell ein weiteres Bild verdeckt und zu enthüllen vermag.

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