In seinen Überlegungen zum offenen Kunstwerk beschreibt Umberto Eco Kunstwerke des Barocks als dynamisches Spiel von Fülle, Leere, Licht, Schatten, Kurven, gebrochenen Neigungswinkeln und unbestimmten Blicklinien. Ohne Festlegung auf einen bevorzugten Standpunkt einer ‚richtigen‘ Interpretation von Kunstwerken, gegen die auch Susan Sonntag in Kunst und Antikunst argumentiert, muss zunächst eine vom Kunstwerk ausgehende Ambivalenz von Mehr- und Uneindeutigkeiten ausgehalten werden, bevor unser rezeptives, schöpferisch-erfinderisches Verhalten als ein solches reflektiert werden kann.
In dem Lektüreseminar Das Handorakel heute. Gracián und Gegenwart soll ein ambivalenter Text von 1647, der seit Herbst 2020 in einer Neuübersetzung von Hans Ulrich Gumbrecht vorliegt, eingehend gelesen und besprochen werden: Baltasar Graciáns Handorakel und Kunst der Weltklugheit. Gumbrechts Übersetzung und Kommentierung ist dabei die erste seit Arthur Schopenhauers Übertragung aus dem Jahr 1832.
Bemerkenswerterweise wird die Gumbrecht-Übersetzung schon wenige Wochen nach der Veröffentlichung in einer Amazon-Kundenbewertung dafür kritisiert, weniger eindeutig die Formulierungen aus dem Spanischen zu übertragen als die Übersetzung Schopenhauers. Entgegen einer solchen Erwartungshaltung des Eindeutigen, soll gerade die Ambivalenz des Handorakels als barockem Kunstwerk nachgespürt werden, das Denkprozesse und/als ästhetische Prozesse nicht in Kategorien eindeutiger Linearentwicklungen, sondern mehr in unerwarteten Wendungen und Windungen gleichsam sichtbar macht wie auch selbst vollzieht.
Sonntag beschreibt bereits 1964, dass es keine Hermeneutik von Kunstwerken, sondern vielmehr „eine Erotik der Kunst“ braucht. Damit meint sie, dass es Ziel jeglicher Auseinandersetzung mit Kunst sein muss, „die Kunst – und analog dazu unsere eigene Erfahrung – für uns wirklicher zu machen statt weniger wirklich.“
Das Handorakel aus dem 17. Jahrhundert in seiner Übersetzung von 2020 im Sommer 2021 zu lesen, bedeutet in diesem Sinne auch, sich über die Einfügung dieses ästhetischen Werks in eine Welt digitaler Transformationen bewusst zu werden. Welche Ambivalenzen können wir vom Handorakel in unsere Gegenwart übertragen, welche Unbestimmtheiten müssen in das Digitale eingetragen werden und wo werden in unserer Gegenwart Aspekte des Uneindeutigen als Eindeutigkeiten präsentiert, was letztlich die Austragung von Ambivalenz bedeutet? Diese und andere Fragen sollen das Gespräch leiten, dass sich an intensiver Lektüre des Handorakels entzünden soll.
Bitte melden Sie sich unbedingt von Beginn der Veranstaltung im entsprechenden Moodle-Raum an.
Bitte organisieren Sie sich Gracián, Baltasar: Handorakel und Kunst der Weltklugheit in der Neuübersetzung, erschienen bei Reclam 2020. Übers. und hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht, ISBN: 978-3-15-010927-4.
Verweise der Seminarbeschreibung:
Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a.M. 2016 [1977]. S. 35.
Sonntag: Kunst und Antikunst, Frankfurt a.M. 1982 [1964]. S.22. |