| Beschreibung |
Ab den 1880er Jahren entstanden zahlreiche Künstlerkolonien in ländlichen Gegenden. Diese Gemeinschaften von Malern, Schriftstellern, Kunsthandwerkern und Denkern suchten jenseits der Metropolen nach Inspiration in der Natur, nach Einfachheit, Authentizität und einer neuen Verbindung von Kunst und Leben. Orte wie Worpswede, Dachau, Nidden, Ahrenshoop oder die Mathildenhöhe in Darmstadt entwickelten sich zu kulturellen Laboratorien, in denen neue Formen künstlerischen Ausdrucks, des Zusammenlebens und der Gestaltung erprobt wurden. Um 1900 formierten sich im deutschsprachigen Raum – aber auch darüber hinaus – eine vielgestaltige Kulturbewegung, die unter dem Schlagwort Lebensreform bekannt wurde. Getragen von Künstlern, Intellektuellen, Reformpädagogen, Naturheilkundlern, Theosophen, Vegetariern, Nacktkultur-Enthusiasten und Aussteiger*innen, war diese Bewegung unter anderem Ausdruck einer Kritik an der Moderne: an Industrialisierung, Urbanisierung, Entfremdung und der als geistlos empfundenen bürgerlichen Lebensweise. Die Lebensreformer strebten eine ganzheitliche Erneuerung des Lebens an, im Alltag, in der Ernährung, im Wohnen, in der Kleidung. Es ging um Ideen des "Natürlichen", des "Ursprünglichen" und des "Einfachen". Lange vor den 1960er Jahren bildeten sich hier Kommunen, Gartenstädte, vegetarischen Kolonien, Siedlungen oder auch alternative pädagogische Einrichtungen. Insbesondere in Worpswede verband sich die Landschaftsmalerei mit dem Traum vom naturnahen Leben. Künstler wie Heinrich Vogeler, Paula Modersohn-Becker oder Rainer Maria Rilke erprobten hier neue Wege zwischen individueller Innerlichkeit und gesellschaftlicher Utopie. Auch auf der Darmstädter Mathildenhöhe, gefördert vom kunstsinnigen Großherzog Ernst Ludwig, verband sich der Jugendstil mit der Idee eines reformierten Wohnens und Arbeitens – ein Vorläufer späterer Bauhaus-Ideen. Das Modul untersucht die Lebensreform- und Künstlerkolonie-Bewegungen in ihren gemeinsamen und unterschiedlichen Formen im Kontext der tiefgreifenden Umbrüche der Moderne. Dabei werden wir sowohl die ideengeschichtlichen Hintergründe (z. B. Rousseau, Nietzsche, Theosophie, Wandervogelbewegung) als auch die konkreten Realisierungen dieser Lebensutopien analysieren. Im Zentrum stehen Fragen wie: - Was war das Ziel der Lebensreformer – worin bestand ihre Gesellschaftskritik?
- Wie wurde „Natürlichkeit” und „Ursprünglichkeit” imaginiert und inszeniert?
- In welchem Verhältnis standen Kunst und Leben in den Künstlerkolonien?
- Welche Geschlechterbilder, Körperpolitiken und sozialen Hierarchien waren mit diesen Bewegungen verbunden?
- Inwiefern wirken Aspekte der Lebensreform in heutige Ökologiebewegungen, Baukultur und Lebensstilfragen etc. nach? WO sind sie uns fremd, wo finden wir Anschluß?
Ziel ist es, Lebensreform und Künstlerkolonien nicht romantisch zu verklären, sondern als ambivalente kulturelle Phänomene zu analysieren: als Mischung aus Protest, Rückzug, Ästhetik und Reformpraxis und als kulturelle Epoche, in deren Kontext nicht zuletzt das Bauhaus steht. Bemerkung: Bei der dauerhaften Teilnahme am Kurs ist die Anmeldung im zugehörigen Moodle notwendig. |
| Literatur |
Joachim Radkau (2013): Alternative Moderne: Ins Freie, ins Licht! In: Anders leben. Wilder denken, freier lieben, grüner wohnen - Jugendbewegung und Lebensreform in Deutschland um 1900. ZEIT Geschichte, Heft 2/13. Online: https://www.zeit.de/zeit-geschichte/2013/02/reformbewegung-alternative-moderne/komplettansichtCorona Hepp (1987). Avantgarde: Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende. München: dtv. Pamela Kort (2015, Hg.): Künstler und Propheten. Eine geheime Geschichte der Moderne 1872–1972. Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt. Rilke, Rainer Maria (1987 [1903]): Worpswede. Frankfurt am Main: Insel. Berit Hempel (2023): Künstlerkolonie Worpswede. Ein Ort zwischen Mythos und Gegenwart. Lange Nacht, Deutschlandfunk 11.02.2023, Online: https://www.deutschlandfunkkultur.de/kuenstlerkolonie-worpswede-102.html |