Lehre
Prähistorisch ≈ Postdigital? Spekulative Praktiken und Werkzeuge für »Ongoingness«*
Betrachten wir eine Astgabel. Sie …
… ist stark. Sie bildet wegen der sich in ihr verflechtenden Fasern eins der stärksten Teile eines Baumes. Daher setzte man sie an den Stellen ein, die besonders strapaziert wurden, zum Beispiel beim Bau von Schiffsrümpfen oder als eine Leiter.
…ist suggestiv. Sie wurde wegen der ihr eigenen Geometrie – umgedreht und mit Axt bearbeitet – zur menschenähnlichen Pfahlgöttin. Solche Idole fanden Verwendung im Fruchtbarkeitkult oder bei Opferhandlungen.
… ist wertlos. Ihre Form ist zu unregelmäßig und eigensinnig, daher lässt sie sich nicht standardisieren. Sie findet Verwendung als Brennstoff oder wird zerhackt, zerfasert und verklebt für die Herstellung normierter Halbzeugen (MDF, OSB, …).
… ist angesagt. Sie wird heute wiederentdeckt, genau aufgrund der oben beschriebenen Eigenschaften – unregelmäßig und stark. Einsatzbereich: die Herstellung nicht-standardisierter Bauteile: digitalisiert, katalogisiert, parametrisiert und minimal, aber präzise CNC-gefräst.
…ist… (zu ergänzen) …
Dieses Semester erkunden wir gemeinsam das Spannungsfeld zwischen neuesten Technologien und ältesten materiellen und rituellen Praktiken. Im Reagenzglas unseres Gestaltunglabors werden technologische Emergenz und gegenwärtige Bedürfnisse mit lebendiger Geschichte(n) vermengt und das Ergebnis dieser Reaktion als gebaute Prototypen erprobt und weiterentwickelt. Ausgangspunkt unserer Erkundung ist eine Kooperation mit dem Museum für Ur- und Frühgeschichte Thüringens in Weimar, die Sammlung und Räume des Museums bieten Anregungen für das Entwickeln eigener spekulativgestalterischer Praktiken:
Mithilfe von Technologien wie 3D-Scanning, digitaler Modellierung und Simulation und digitaler Fabrikation (CNC-Fräsen, 3D-Drucken) greifen wir alte und durch die Industrialisierung in Vergessenheit geratene Wege, Material als »lebendig« zu denken und zu verwenden, auf und erfinden diese neu. Ziel ist es – besonders im Angesicht von Ressourcenknappheit und Klimakatastrophe – aus der Vergangenheit zu lernen und eine zukunftsfähige Haltung zu kultivieren, um schonend, nachhaltig und gleichzeitig imaginativ mit Ressourcen umzugehen.
Gleichzeitig wollen wir die im Museum befindlichen kultischen und rituellen Artefakte sowie die sozialen und spirituellen Praktiken, von denen diese zeugen, spekulativ neu erfinden. Studierende wählen dazu anfangs ein spezifisches Artefakt, erkunden dies inhaltlich, materiell sowie technisch (u.a. mittels Photogrammetrie), re-aktualisieren oder übersetzen dieses Objekt spekulativ mit Hilfe zeitgenössischer (digitalen) Herstellungsverfahren und re-kontextualisieren es folglich als spekulative Praxis in unserer postdigitalen Welt. Konfrontiert mit der eigenen Lebenswelt der Studierenden nehmen wir die Artefakte also zum Anlass, zeitgenössische und zukünftige Rituale, Artefakte und Erzählungen zu gestalten, die die Bedürfnisse, Verlangen, Hoffnungen und Ängste unseres eigenen Zeitalters erkunden.
Die Formate der sich daraus entwickelnden individuellen Projekte sollen sich im Laufe des Semesters herauskristallisieren. Die Rolle des Museums ist dabei nicht vorgeschrieben: es kann als Ort für räumliche Interventionen, Subversionen oder für Rituale dienen, kann aber auch »nur« als anfänglicher Inspirationsfunken oder Resonanzraum genutzt werden. Wichtig ist, dass wir den Gestaltungsprozess als ergebnisoffen sehen, angetrieben sowohl vom Kontext als auch von individueller Neugier und persönlichen Interessen. Das Projektmodul will euch Zeit und Raum geben, individuelle Herangehensweisen zu entwickeln, die weniger auf das Beweisen und mehr auf das Herausfinden abzielen. Dabei ist Präzision ebenso wichtig wie Intuition, Risikobereitschaft und Erfindungsgeist.
Neben der wöchentlichen Betreuung des Projektes bietet das Semester unter anderem:
- eine Auftakt-Exkursion zum Thema »Prähistorisch ≈ Postdigital«: Karl-Zeiss Jena (TBC), einer prähistorische Kultstätte (TBC) und das Museum für Ur- und Frühgeschichte Thüringens in Weimar
- einen Photogrammetrie-Workshop (Autodesk Recap): »3D-Scanning for Precision and Speculation« (Oktober, in Zusammenarbeit mit dem OPL)
- zwei 3-Tagesworkshops (November und Dezember): »Experimental and collaborative CNC-Fabrication« (Autodesk Fusion, Rhino, in Zusammenarbeit mit der Holzwerkstatt)
*Postdigital: das Digitale ist dabei sich aufzulösen – es ist überall, wie die Luft, die wir atmen; das Digitale an sich ist nicht das Spannende – spannender ist, was wir damit machen; das Digitale lässt sich im Handumdrehen physisch herstellen und umgekehrt das Physische im Handumdrehen digitalisieren – es geht darum zu lernen, sich fließend und mit Leichtigkeit dazwischen zu bewegen und die Übersetzungen spielerisch und spekulativ auszunutzen.
Prähistorisch: stammend aus der Zeit vor schriftlichen Aufzeichnungen. Es gibt keine Erzählungen, nur Funde – also umso mehr spekulativer Spielraum für uns.
Ongoingness/Ongoing: zentrales Konzept in den jüngsten techno-feministischen Schriften Donna Haraways. Seine Vieldeutigkeit lässt sich nur mit einer Vielzahl von Begriffen übersetzen:
- Weitermachen, weiterschreiben, anknüpfen, umknüpfen, (er)finden: als Gestalter*innen müssen wir uns mit dem Gegebenen, dem Vererbten (ob positiv oder negativ), dem angehäuften Datensatz, dem langsam Gewachsenen und dem schnell Zusammenbrechenden auseinandersetzen. Das ist nicht nur eine ethische Verpflichtung, sondern auch eine Einladung, das Vorgefundene als Quelle »anzuzapfen« um unsere Vorstellungskraft und Erfindungsgeist anzufeuern; es ist das Gegenteil der leeren Leinwand oder des Koordinatenkreuzes vor dem gaffenden grauen Loch des Rhino-Hintergrunds: eine reichlich texturierte Punktwolke mit Millionen Raum- und Farbkoordinaten, präzise aber provokativ.
- Weiterbestehen, fort-, an-, überdauern: Wie ermöglichen wir Gestalter*innen, dass wir weiterbestehen können?
- Beharren: Wie bleiben wir dran, wie scheitern wir besser, wie denken wir in Iterationen und Prototypen?
- Andauern, Weitermachen, fortwähren: Wie gestalten wir Arbeiten, die nicht »vollendet« sind und es vielleicht nie sein werden, die aktiv sind und aktiv bleiben?
Fragen:
- Wie könnten wir die Unregelmäßigkeit, die Variabilität, die zeitliche Schichtungen, die sich einem Material abzeichnet, erfassen, verstehen und gestalterisch nutzen? Könnten wir die Lebendigkeit, die Unbändigkeit eines Materials zu unserem Vorteil nutzen?
- Wie könnten wir das rituelle und subversive Potential unserer zeitgenössischen Gestaltungwerkzeuge und -techniken »anzapfen«, sie nicht nur als Möglichkeiten der präzisen Erfassung und Übersetzung sehen, sondern sie auch in ihrer kreative Agenz erkennen, gar als phantasmagorisch? Wie verwenden wir sie mit einer »präzisen Unschärfe«?
- Was sind unsere zeitgenössischen (oder künftigen) Idole und Orakel? Wie könnten neue Technologien (beispielsweise KI, denken wir an DALL-E, Midjourney oder Instagram-Orakel) neue Instrumente der Spekulation und Wahrsagung werden? Wie würde sich sowas in gestalterische Objekte und Praktiken übersetzen?
- Wie erfahren wir 10.000 Jahre alte Artefakte und Rituale als »ongoing«, als »lebendig«? Wie lassen sie sich taktil, über den Körper, aktivieren – wie schreiben wir sie weiter in unserer heutigen Zeit, wie erfinden wir sie neu, und wie verstehen wir sie absichtlich falsch? Wie »stehlen« und »transportieren« wir sie ohne sie zu berühren, wie übersetzen wir sie in einen anderen Raum oder Kontext, wie lesen wir sie auf eine »andere«, spekulative Art? Wie füllen wir ihre narrativen und materiellen Lücken? Was befindet sich unter ihren Oberflächen?
- Was wäre ein Artefakt, das Sachen belegt, die nie geschahen, aber vielleicht hätten geschehen sollen? Wie benutzen wir Fabrikation im übertragenden Sinne, heißt: Wie stellen wir diese fehlende Wahrheit her?
- Wie könnte ein Artefakt unserer Zeit aussehen, das von künftigen Generationen (beispielsweise in 10.000 Jahren) gefunden oder von nicht-menschlichen Agenten (einem autonomen Fahrzeug, einem anderem Lebewesen, einem Satellit) gelesen werden soll? An wen oder was wäre es adressiert? Welche Datensätze wären in ihm verschlüsselt, welche Informationen kodiert, welche Anleitungen aus ihm zu entnehmen?
- Wie entwickeln wir als Gestalter*innen/Erfinder*innen /Erzähler*innen neue Praktiken, Werkzeuge und Artefakte, die »ongoing« sind und bleiben, die ihre Bedeutung und Nutzen über die Zeit entfalten?
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