Wintersemester 2010/11

Kursangebot Bachelor

 

Organizational Ventures: Counter Culture, Projektmodul, C.Hill

 

"It may, after all, be the bad habit of creative talents to invest themselves in pathological extremes that yield remarkable insights but no durable way of life for those who cannot translate their psychic wounds into significant art or thought." — Theodore Roszak

"Whoever controls the media, the images, controls the culture.” — Allen Ginsberg

Was bedeutet es, wenn das erste Google-Suchergebnis für den soziologischen Begriff „Counter Culture“ (Gegenkultur) ein Online-Shop für Kaffee-Enthusiasten ist? Vielleicht ist der Ausverkauf des Begriffs restlos: Etwas zählt nicht, wenn es keinen vermarktbaren Gesichtspunkt gibt. Ein Schaltergeschäft (over-the-counter transaction) ist die gewöhnlichste Form heutigen Austauschs: Apotheke, Bank, Lebensmittelhandlung, Kaufhaus. Auf diese Weise treffen wir täglich mehrmals uns vollkommen Fremde. Was ist das Wesen dieses Austauschs, wie wird er bestmöglich durchgeführt und welche künstlerischen Elemente sind daran beteiligt? Wie können wir unser ideales Geschäftsmodell („transactional enterprise“) als Teil unseres täglichen Lebens gestalten?

Eines der bekanntesten tableaux vivants, die uns begegnen, ist das des Ladentischs im Gebrauch: Tresen, Theke, Ausschank, Werkbank, Küchenarbeitsfl.che. Sie sind gebrauchsfertige („ready-made“) Installationen des wirklichen Lebens, die sich in fortwährender Veränderung durch Benutzung und Neu-Anordnung befinden. Dieses aus Werkzeugen, Dingen, Überresten und Verkaufsutensilien bestehende Material-Arsenal werden wir sammeln, untersuchen und für unsere Zwecke verwenden. In Folge der 2009-2010 durchgeführten „Moden & öffentliche Erscheinungsbilder“-Projekte, gibt es ein voll funktionsfähiges kleines Ladengeschäft in unserem Projektraum. Diese Basisausstattung bietet die Grundlage für die Experimente des Kurses. Wir werden thematische Transaktionen entwerfen, sie mit geeigneten Verbrauchs- und Arbeitsmaterialien ausstatten, dazugehörige Rollen und -verhalten bestimmen und zahlreiche Testläufe solcher Verkaufshandlungen durchführen. Wir werden uns mit einer Reihe von Künstlern-/innen befassen, die sich schwerpunktmäßig in ihrer Arbeit mit der Ethik und den Belangen des Austauschs und von Kleinunternehmen auseinandersetzen. Wir werden uns auf die Bedeutung des Begriffs „Hooshing“ konzentrieren, der in der Designercommunity dafür steht, sich mit außergewöhnlicher ästhetischer Aufmerksamkeit alltäglichen Lebensumständen und deren funktionalen Elemente zu widmen. Der Begriff „counter“ in „Counter Culture“ weist auf eine Bewegung des „dagegen-seins“ (gegen das Establishment) hin, und auf die Hoffnung, dazu eine Alternative anbieten zu können. Unsere Frage kann lauten: Wofür sind wir?

 

GET LOST! in Weimar, Werkmodul, Anja Lutz

»GET LOST! in Weimar« ist ein subversiver Reiseführer, der entlang verborgener Pfade und persönlicher Vorlieben führt und ungewöhnliche Möglichkeiten bietet, die Stadt zu entdecken.

Herkömmliche Reiseführer sind seit ihrer Erfindung durch Karl Baedecker 1835 unverzichtbare Reisebegleiter geworden, die uns mit den nötigen Informationen versorgen, um uns in der Stadt zurechtzufinden, die wir besuchen. Sie führen uns zu den wichtigen Sehenswürdigkeiten, den besten Geschäften und Hotels und sie informieren uns über Öffnungszeiten und historische Zusammenhänge. ABER sie erfassen nicht den reichhaltigen und vielschichtigen Charakter einer Stadt. Städte sind in ständiger Bewegung und Veränderung begriffen. Sie setzen sich aus einer Vielzahl an Bewohnern, deren Alltag, Anliegen und Befindlichkeiten zusammen. Eine Stadt besteht aus einer gelebten Kultur mit vielen unterschiedlicher Facetten, die wir nicht unmittelbar wahrnehmen können. In dem Workmodul »GET LOst! in Weimar« werden wir uns mit diesen verborgenen Facetten befassen und diese erlebbar machen. Wir wollen uns mit jenen Situationen und Themen der Stadt beschäftigen, die oft nicht wahrgenommen werden. Wir werden neue und persönliche Ansätze entwickeln, um diese kleinen, alltäglichen und vielleicht bisher übersehenen Aspekte Weimars sichtbar zu machen. Die Studenten werden jeweils einen persönlichen Aspekt Weimars bearbeiten und eine Stadtführung anhand ihres Themas entwickeln. Jede Führung soll einen ganz eigenen Einblick in das Stadtleben ermöglichen. Wir werden hierfür die verschiedenen methodischen und performativen Möglichkeiten von Führungen untersuchen und umsetzen.

Die Herangehensweisen können so unterschiedlich sein wie: das Kartografieren persönlicher Geschichten; Orte die auf keinem Stadtplan verzeichnet sind; urbane Legenden und Gerüchte; Interpretationen der sichtbaren Stadtkulisse; oder auch Strategien, wie und wo man mit den Einwohnern in Kontakt kommt. Das Ergebnis mag informativ, kontrovers, sehr persönlich oder auch humorvoll sein. Es mag erhellen, verwundern, absichtlich verwirren oder inspirieren …

In ihrer Gesamtheit sollen die Arbeiten das Potenzial haben Teile von Weimars Leben und Kultur so zu beleuchten, dass ein differenziertes und vielschichtiges Bild entsteht. Sie sollen uns außerdem die Möglichkeit geben, mit der Stadt und ihren Einwohnern auf eine bedeutungsvolle Art und Weise in Kontakt zu treten. In einem weiteren Schritt werden wir die entwickelten Stadtführungen grafisch umsetzen und in einer kleinen Publikation zusammenführen. Hierfür werden wir uns mit den unterschiedlichen Möglichkeiten von Kartografie, Dokumentation und Anleitung beschäftigen. Des weiteren werden wir eine gestalterische Konzeption entwickeln, die einen Rahmen bietet, die unterschiedlichen Stadtführungen in einer stimmigen Publikation zusammenzuführen.

 

REPEAT UNTIL…Die 10.000 Stunden Regel, Werkmodul, F.Sattler

„Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.“ (Samuel Beckett)

Kann man Kunst üben? Thomas Alva Edison war der Ansicht, dass auch kreative Arbeit ein Zusammenspiel von Talent und Ausdauer ist: „Genie ist ein Prozent Inspiration und neunundneunzig Prozent Transpiration.“ Die Frage „Hätte ich das besser gekonnt?“ wird jedem Gestalter im Verlauf oder spätestens nach Abschluss eines Projekts in den Sinn kommen. In einer Branche, die die stetige Innovation zum Diktum erhoben hat, ist scheinbar die Berechtigung zur Wiederholung und Verbesserung verloren gegangen: die nächste Aufgabe, der nächste Skill wartet bereits. Für Leistungssportler und Musiker ist es hingegen entscheidend, die gleichen Abläufe teilweise über Jahre hinweg zu perfektionieren und sich so langsam an ein Leistungsmaximum heranzutasten. Der amerikanische Neurowissenschaftler Daniel Levitin hat dafür in seinem Buch „Der Musik-Instinkt: Die Wissenschaft einer menschlichen Leidenschaft“ die sogenannte 10.000-Stunden-Regel formuliert. Das Studium der Biographien von Musikern hatte gezeigt, dass zur Meisterschaft mindestens 10.000 Stunden Übung notwendig sind. Ähnliches gilt auch für die handwerklichen Berufe, dort markiert das Gesellenstück seit Jahrhunderten das Ende der Lehrjahre und den Übergang in die Professionalität. In naturwissenschaftlichen Laboren und Experimentalsystemen wird ebenfalls auf Wiederholung gesetzt: Neues kann hier erst entstehen, wenn in wiederholten Versuchen stets nur winzige Details verändert werden.

Im Kurs stellen sich die TeilnehmerInnen jeweils eine einzige Aufgabe. Sie entwerfen dafür einen detaillierten Übungsplan und fertigen Protokolle ihres individuellen Fortschritts an. Sie dokumentieren ihre Übungseinheiten in freier Wahl des Mediums und präsentieren zum Semesterende den Prozess. Damit soll einerseits der Frage auf den Grund gegangen werden, bis zu welchem Grad sich ein „Werk“ auf diese Weise verbessern lässt bzw. wo das individuelle Leistungsmaximum liegt – und was danach kommt. Umgekehrt wollen wir außerdem der Frage nachgehen, ob und wie die Übung selbst zur Kunstform werden kann. Als performative Strategie soll der Prozess des Wiederholens, Abwandelns, Verbesserns selbst ins Zentrum rücken und gegenüber einem „fertigen“ Werk etabliert werden. Das Thema kann dabei unmittelbar aus traditionellen Motiven und Methoden der Kunst und des Designs gewählt werden (Bsp.: „Wie oft muss ich ein Pferd zeichnen, bis es nicht mehr besser wird?“), genauso gut aber auch eine sportliche, („Wie viele Liegestütze kann ich machen?“) musische oder handwerkliche Tätigkeit umfassen. Eine Exkursion zum SV Halle, dem Schwimmverein von Weltmeister Paul Biedermann, ist ebenso geplant wie ein Besuch der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar.

 

Inventory & Display I: Musterkoffer, Werkmodul, F.Sattler

Einen Koffer zu packen ist kein trivialer Akt, sondern verlangt nach einer geradezu meisterhaften Komposition. Denn selten liegen die Dinge derart nah beieinander: Genügsamkeit und Bequemlichkeit, das Notwendige und das .berflüssige.Koffer sind transportable Inventare, Kondensate der Identität und des Besitzstandes ihrer Eigentümer. Die Anordnung der Dinge ist dabei von ebenso großer Aussagekraft wie die enthaltenen Dinge selbst: das, was ich mitnehme, also in der Hand habe, zeugt zugleich vom Umgang mit den Dingen, der Handhabung. Kofferfabrikanten wie Louis Vuitton gestalten seit Generationen Koffer im Wissen, dass sie Schnittstellen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen sind, die Dinge schützen und zugleich den gesellschaftlichen Status des Reisenden repräsentieren. Von Innen wie von Außen besehen, ist ein Koffer so immer auch ein Ausstellungsstück. Mit dem Musterkoffer wird dieser Charakter einer Miniaturausstellung explizit. Vertreter aller möglicher und unmöglicher Waren ziehen damit durch die Lande, und nicht selten soll neben einzelnen Dingen auch die Unternehmensidentität mit verkauft werden. Zuweilen gar wird das Ensemble im Koffer Bedeutungsträger im missionarischen Auftrag: die Apostel des Deutschen Werkbunds leisteten mit Musterkoffern ausgestattet, die "Werkbund- Kisten" genannt wurden, ab 1958 an Schulen Designerziehung im Namen der "Guten Form". In der Kunstgeschichte ist Marcel Duchamps retrospektive "Boîte-en-valise" (1941) eine Art Urszene des Koffermuseums. Bis heute haben zahlreiche Künstlerinnen und Künstler dieses Format aufgegriffen und Zusammenstellungen von Dingen mit persönlicher oder universeller Geschichte in Koffern realisiert. Christine Hill hat 2003 mit "The Trunk Show" eine Serie von Schrankkoffern präsentiert, die jeweils das vollständige Inventar eines bestimmten Büroarbeitsplatzes beinhalteten. Aber auch verschiedene Designer geben sich nicht mit praktischem Alltagsgepäck zufrieden. Ein von Patrick Vuitton für Karl Lagerfeld als Einzelstück entworfener Koffer enthält zum Beispiel ein Arrangement von 20 iPods und Lautsprechern – zeitgemäß nicht mehr auf Samt, sondern auf rotem Mikrofasergewebe gebettet.

Kursangebot Master

 

Wunderwirtschaft: Sole Proprietor, Projektmodul, C.Hill

"Making money is art and working is art and good business is the best art." — Andy Warhol

Organizing and maintaining a professional creative career (studio art or otherwise) can draw many parallels to managing a small business. Scale of practice similarly so: there is an obvious difference between manning a 65+ person enterprise a la Olafur Eliasson Studio, and being exclusively responsible for all of one's endeavors: a sole proprietor. Often these are results of circumstance, but they can also be the result of a personal choice with regard to how one wants to design one's business. Keeping matters on a personal scale reflects a pride in having direct oversight of activity, in engaging with colleagues and clients on a one-to-one basis, and being solely responsible for all decisions. Similarly, the creative work space develops parallels with the small business in an aesthetic/visual manner. The site becomes a collection of transactions and materials, and any working surface is simultaneously an installation. How the space is arranged must be organizational relevant, aesthetically considered, highly functional and economically sound. This course hinges on relating one's creative practice to that of a specific type of small business model. Participants will choose a "sole proprietor" from the exterior community (non-art, non-university) to engage with, be in dialogue with, learn from...and expand their own understanding of their work from this relationship. We will focus on similar strategies being employed in the art system by a diverse range of practitioners (ie, Claes Oldenburg, Andy Warhol, Allison Smith, Vito Acconci, Andrea Zittel, J. Morgan Puett, ...) There will be considerable discussion of how we choose to design our practice, what existing forms we are hoping to emulate,

and how to implement these in a post-university occupation. There will be an excursion to Berlin to visit numerous sole proprietorships and discuss organizational practice with these owners. This trip will include a visit to Christine Hill's "Volksboutique" which has a new, functioning shop installation installed and running as of October 2010.

 

WORK DON’T PLAY – Future Scenographies for the Creative Industries, Fachmodul, F.Sattler

Kreative Arbeit kommt nicht nur dort zur Aufführung, wo sie in Form von Ausstellungen, Performances, Produkten ein repräsentatives „Endstadium“ erreicht. Identität, Ethos und Mythos kreativer Arbeit sind Teil des Werks – und sie entstehen und stellen sich dort zur Schau, wo produziert wird. Seit Jahrhunderten wird die quasi-magische Trinität von Raum, KünstlerIn und ihrem/seinem Genius loci im Atelier verortet. Während diese Vorstellung früher vor allem durch die Literatur, in Berichten von AtelierbesucherInnen oder aber in malerischen (Selbst-)Darstellungen transportiert wurde, so wird seit Beginn der Moderne das Atelier vermehrt unmittelbar zum Exponat. Andy Warhols Factory ermöglichte seine Version von Kunst im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, die vor allem in der fortlaufenden (Re-)Produktion der eigenen Künstleridentit.t bestand. Christine Hill verwandelt das Atelier u.a. in einen Second-Hand Laden (Volksboutique) und ein „Home Office“ (und vice versa) und gewinnt aus der Entladungsenergie des Kurzschlusses von Produktions- und Expositionsstätte ihre Identität als Künstlerin=Kleinunternehmerin. Bei Bruce Nauman schließlich bleibt der Künstler abwesend („Mapping the Studio“), seine Aura besteht als Spur fort und die Gegenstände im Atelier, das „Zeug“ (Heidegger), sind es, deren ontologische Qualität in diesem Spannungsverhältnis von den Infrarotkameras beleuchtet wird. Seit den 1960er Jahren beflügeln technische Errungenschaften und flexibilisierte Lebens- und Arbeitsmodelle

Phantasien und tatsächliche Formen temporärer und mobiler Arbeit. Architekten, Designer und Künstler haben Industriebrachen, Container, Flugzeughangars und den öffentlichen Raum als Arbeitsumgebungen nutzbar gemacht. Sie waren sich dabei im Klaren, dass der praktische Nutzen immer in einem sorgfältig austarierten Verhältnis zur identitätsstiftenden Funktion steht.

In den 1990er Jahren wird euphorisch der Begriff der dank Laptop und Mobiltelefon ortsungebunden vernetzten „Digitalen Nomaden“ proklamiert, die ein Jahrzehnt später als „Urbane Penner“ (Mercedes Bunz) auf den harten (Berliner Café-)Boden prekärer Verhältnisse zurückgeholt werden.

Welche Bedürfnisse an unsere Arbeitsplätze stellen wir in der Zukunft? An welchen Orten und mit welchen Mitteln wollen wir arbeiten? Wie sehen wir uns dabei selbst und wie wollen wir gesehen werden? Im Kurs werden wir uns intensiv mit historischen und aktuellen Beispielen kreativer Arbeitsumgebungen auseinander setzen. Begleitend und vertiefend werden wir Ausschnitte aus maßgeblichen Texten zur Kultur der Arbeit und zu Künstlermythen diskutieren; diese Diskussionen finden als sog. „Meditationen“ als performative, nicht-wissenschaftliche

Dialoge statt. Eine zweitägige Exkursion zum Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart (Projekt Office 21 siehe http://www.office21.de/) und ins Vitra Design Museum in Weil am Rhein ist ebenso Teil des Kursangebots wie ein Gastvortrag von Prof. Dr. Herbert Lachmeyer (Ausstellungsmacher, Kurator u.a. von „Work & Culture: Büro, Inszenierung von Arbeit“). Kursziel ist der Entwurf und/oder die Dokumentation einer wegweisenden Arbeitsumgebung für die Creative Industries (bildende Kunst, Design, Architektur sowie alle Hybride)! Erwartet wird die engagierte Recherche nach Vorläufern und aktuellen Tendenzen. Ein Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung eines individuellen Arbeits-Raum-Begriffs. Intellektueller Scharfsinn und Selbstironie sind immer mit sich zu führen. Die Wahl des Mediums ist frei. Format und Umfang werden individuell abgesprochen. Der Kurs mündet in eine öffentliche Präsentation, deren Planung und Realisation ebenfalls Bestandteil des Leistungsnachweis ist. Für wen ist dieser Kurs gedacht? Der Kurs richtet sich an Studierende, die ein ausgeprägtes und kritisches Interesse an den Fragestellungen zeitgenössischer Szenographie haben und sich auch theoretisch mit der Szenographie von wissensbildenden Institution auseinandersetzen möchten.