Renate Maas

Die Theorie des Diaphanen und die Architektur

1927 hat der Kunsthistoriker Hans Jantzen den Begriff „Diaphane Struktur“ geprägt. Wohl angeregt durch Aristoteles' Sehtheorie sowie die phänomenologische Gestaltpsychologie hatte er eine solche Struktur in der gotischen Kathedralwand gesehen. Jantzen meint damit, dass Körper- und Freiraum sowie helles und dunkles Licht nicht als Gegensätze zu sehen sind, sondern aufgrund einer bestimmten Anordnung ganzheitlich zusammenspielen. Diese Beschaffenheit korrespondiert mit der uns Menschen eigenen Räumlichkeit, wie sie Martin Heidegger – ebenfalls 1927 – aufgezeigt hat. Deshalb wird der derart gestaltete Raum erst in der Rezeption real, während wir wiederum durch ihn eine unmittelbare Raumerfahrung machen. Bis zur phänomenologischen Hinwendung zum Raum und der Frage nach dessen Ursprung war Raum infolge der neuzeitlichen Wissenschaft jahrhundertelang vom Gegensatz des Materiellen und Immateriellen sowie von der Perspektivtheorie her gedacht worden. Der neue Blick auf Architektur und Kunst geht mit einer Betonung des Ganzheitlichen und des A-perspektivischen sowie einer Fokussierung auf bestimmte, bis dahin teils unbeachtete Stile einher. So legt er über die diaphane Struktur in der gotischen Kathedrale hinaus vergleichbare Merkmale in weiteren ästhetischen Phänomenen offen – von der bronzezeitlichen Kultstätte in Stonehenge über die dorischen Tempelbauten, die ottonische Buch- und Reliefkunst, bis zur Kunst und Architektur der Moderne. Sogar Kinderkunst, bäuerliche  Bodenkultivierung und das Konzept des geopolitischen Großraums spielen eine Rolle. Letztlich kann der Diaphaniebegriff als stellvertretend für das philosophisch-geisteswissenschaftliche Raumverständnis der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten. In meinem Vortrag werde ich das Potential dieses Begriffs und seine geistesgeschichtlichen Anknüpfungspunkte vorstellen. Zudem soll gezeigt werden, inwiefern die diaphane Struktur in gestalterischen Anfängen angelegt und somit ein bildliches und bauliches Urprinzip ist.

Der Beitrag basiert auf Erkenntnissen meiner Dissertation, die 2015 unter dem Titel „Diaphan und gedichtet: Der künsterische Raum bei Martin Heidegger und Hans Jantzen“ bei Kassel University Press erschienen ist.